Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
achtlosen Bewegung zog sie ihren Mantel auseinander, nahm Lorenzos Hand und legte sie auf ihren runden Bauch. Dabei lachte sie ihn verliebt an, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn verlangend.
Im nächsten Moment schob sich die Menschenmenge vor das Paar und entzog es Sanchias Blicken, doch sie hatte auch so genug gesehen.
Sie wandte sich ab und strebte blindlings durch die Menge, ohne auf die Richtung zu achten. Sie schob sich an den Menschen vorbei und lief, so schnell es bei dem Gedränge eben möglich war, die Salizada entlang, dann durch einen Sottoportego in eine nach Gerberlauge stinkende Gasse, über einen anderen Campo und dann immer weiter, bis sie einen Kanal erreichte und abermals abbiegen musste. Sie rannte immer weiter, egal wohin, Hauptsache, so weit weg wie möglich. Hauptsache, fort von ihm.
»Messèr Pacioli, auf ein Wort!«, rief der junge Mann neben Sanchia. »Bitte lasst mich mit Euch reden, ganz kurz nur!«
Seine Worte waren ein drolliges Gemisch aus passablem Latein und bruchstückhaftem Venezianisch. Er war ein attraktiver junger Mann, mit wallendem Kraushaar, einer kühn vorspringenden Nase, kräftigem Kinn und vollen Lippen. Seine Kleidung war gediegen, aber fern jeder Eleganz und zudem viel zu warm für die stechende Hitze. Er war rettungslos verschwitzt. Sein Wams war ungefüttert, und sein Hemd stand offen, doch bei den hohen Temperaturen klebten ihm die Sachen wie triefende Säcke auf der Haut.
Der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit war ein Franziskanermönch in mittleren Jahren. Er stand oben auf der Loggia eines Palazzo in unmittelbarer Nachbarschaft des Ponte Rialto und unterhielt sich mit einigen Patriziern. Als der junge Mann ihn anrief, schaute er flüchtig auf, ließ seinen Blick über die Menge schweifen und widmete sich gleich darauf wieder seinen Gesprächspartnern. Der junge Mann fluchte ausgiebig vor sich hin, in einer Sprache, die Sanchia nach kurzem Überlegen als Deutsch einordnete.
»Ist er so wichtig?«, fragte sie leicht belustigt.
»Wichtig?«, fragte der junge Mann entrüstet zurück. »Luca Pacioli? Er ist – neben Messèr da Vinci – der wichtigste Mann Italiens!«
»Ihr kennt Leonardo?«
»Nicht persönlich. Aber dafür seine Arbeiten. Ihretwegen will ich mit Messèr Pacioli sprechen.«
Sanchia richtete sich aus der Hocke auf und wischte sich mit einem Zipfel ihres Gewandes den Schweiß von Hals und Gesicht. Der Bettler, der zu ihren Füßen lag, stöhnte erbarmungswürdig, doch sie hatte alles für ihn getan, was sie konnte. Der junge Kohleflößer, der ihn vorhin versehentlich angerempelt und die Stufen der Anlegestelle hinabgestoßen hatte, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Es bedurfte nur eines kurzen Blicks auf sein peinlich berührtes Gesicht, um zu erkennen, dass er am liebsten auf sein Boot gestiegen und davongerudert wäre. Vermutlich hätte er das auch längst getan, wenn Sanchia ihm nicht befohlen hätte, zu warten.
Das Bein des Bettlers war mit einem Brett aus dem Boot des Flößers geschient, aber die klaffende Wunde an seiner Stirn musste noch genäht werden, und dafür hatte sie nicht die nötige Ausrüstung in ihrem Beutel.
»Könnt Ihr kurz mit anfassen?«, fragte sie den jungen Deutschen höflich.
Dieser nickte sofort und packte den Bettler unter den Armen, während der Kohleschiffer erst auf Sanchias ausdrückliche Aufforderung ebenfalls hinzutrat, um dabei zu helfen, den Verletzten aufzurichten. Die Schultern zu beiden Seiten des Bettlers unter dessen Achseln gestemmt, schleppten die beiden Männer ihn über die Fondamenta.
»Was habt Ihr vor?«, fragte der Flößer erschrocken, als Sanchia ihn mitsamt seiner Last zu seinem mit Säcken beladenen Boot dirigierte.
»Ihr seid für seine Verletzungen verantwortlich, folglich tragt Ihr auch die Verantwortung dafür, dass ihm geholfen wird. Bringt ihn in das Ospedale di San Lorenzo und fragt nach Simon, dem Arzt.«
»Habt Ihr diesem Taugenichts nicht bereits genug geholfen?«, erboste sich der Kohleschiffer. »Seht ihn doch an! Was glaubt Ihr, womit er sich außer Betteln die Zeit vertreibt?«
Tatsächlich erlaubte schon der erste Blick auf den Alten einen Rückschluss auf seine Vorlieben. Er hatte nur noch eine Hand, und die Nase war ihm irgendwann bis auf den Knorpel aufgeschlitzt worden und so schlecht verheilt, dass sie dem Rüssel eines Schweins ähnlicher war als einem menschlichen Riechorgan. Das Blut, das aus seiner Stirnwunde tropfte, ließ ihn
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