Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
der Scuole bildeten den Abschluss der endlos scheinenden Andata.
Unter Fanfarenstößen und Pfeifengedudel nahm die Prozession ihren Fortgang und wälzte sich wie eine behäbige, bunte Schlange auf die Kirchentore von Santa Maria Formosa zu, vorbei an den Menschentrauben, die sich entlang den Häuserwänden drängten und die kostbar gekleideten Machthaber der Serenissima bestaunten. Von den Balkonen und Loggien zu beiden Seiten der Salizada beugten sich weitere Zuschauer herab, um das Spektakel von oben zu betrachten.
Sanchia ließ ihre Blicke über die Menge gleiten und hielt nach Lorenzo Ausschau, doch sie sah ihn nirgends. Stattdessen erkannte sie unter den Würdenträgern in der Prozession zu ihrer Überraschung seinen Vater, Giovanni Caloprini. Unbehagen beschlich sie bei dem Gedanken, dass seine Mutter womöglich ebenfalls nicht weit war. Vielleicht stand sie sogar inmitten der adligen Zuschauer am Rande des Campo, geschmückt und zurechtgemacht unter ihrem Schleier, begierig darauf, alle Eindrücke, die das Gedränge ihr bieten konnte, in sich aufzusaugen.
Die Frauen der Patrizier lebten oft wie Gefangene in ihren kostbaren Palästen und hatten selten Gelegenheit, unter Menschen zu kommen. Oftmals waren solche öffentlichen Veranstaltungen sogar die einzige Möglichkeit für sie, überhaupt einen Fuß vor die Tür zu setzen.
Doch Caterina Caloprini war nirgends zu sehen.
Dafür entdeckte Sanchia ein anderes bekanntes Gesicht. Es war pechschwarz und auf seltsame, fremdländische Art schön. Rufio stand am Rand einer Menschentraube, die sich unter den Arkaden einer Weinschenke gebildet hatte. Er trug wieder die Kleidung eines Gecken, ein weithin leuchtendes, rotes Wams, zweifarbige Calze und ein federgeschmücktes Barett.
Sanchia stockte der Atem. Lorenzo! Er stand mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt, während er sich mit Rufio unterhielt. Ein Bein hatte er angewinkelt und den Fuß gegen die Mauer gestemmt, eine Hand lässig auf dem erhobenen Knie abgestützt, die andere gestikulierend.
Einen Moment blieb Sanchia stehen, um einfach nur seinen Anblick in sich aufzusaugen. Sie hatte ganz vergessen, wie hoch gewachsen und wohlgestaltet er war. Sie hatte die markanten Züge seines Gesichts vergessen, den dunklen Glanz seines Haares und den Schimmer seiner tief gebräunten Haut. Sein Umhang war aus türkisfarbenem, blau abgesetztem Samt, und Sanchia stellte sich vor, auf welch dramatische Weise er den Farbton seiner Augen unterstreichen musste.
Rufio erwiderte etwas, und Lorenzo lachte mit zurückgeworfenem Kopf und blendend weißen Zähnen.
Beklommenheit stieg in Sanchia auf, denn mit einem Mal machte sie sich klar, wie groß die Unterschiede zwischen ihnen wirklich waren. Er war so groß und beeindruckend wie der Held aus einer Drachensage, ein Kämpfer, ein Reisender, ein Sieger, reich, elegant und jeder Zoll ein Edelmann.
Und sie selbst? Wer war sie schon? Die Tochter eines Glasbläsers. Ein Mädchen aus dem Kloster, weder adlig noch wichtig und zu allem Überfluss fast noch ein Kind. In den Augen der meisten Menschen mochte sie als schön gelten, aber in ihren eigenen war sie klein, blass und bedeutungslos. Sie besaß kein einziges schönes Kleid, keinen Schmuck, nichts, womit sie von ihrer Armseligkeit ablenken konnte.
Aber die Tauben, flüsterte es in ihr. Vergiss die Tauben nicht!
Mit einem Anflug von Trotz hob sie den Kopf und sagte sich, dass nicht Tapferkeit, sondern Gelassenheit ihren Füßen dabei half, auf ihn zuzugehen. Sie musste eine Gruppe von Zuschauern umrunden, um ihn zu erreichen, und sie hatte sich gerade bis auf ein paar Schritte an ihn herangekämpft, als von der anderen Seite eine Frau auf Lorenzo zugeeilt kam. Sie war eine bezaubernde Erscheinung, jung und strahlend. Unter dem kurzen Schleier wellte sich kastanienrotes Haar um ein reizendes Antlitz mit einer kecken Stupsnase. Sie trug einen auffallend kostbaren, pelzverbrämten Mantel, der vorn geschlossen war und ihre Schwangerschaft verbarg. Mit glockenhellem Lachen, das in nichts dem Gezeter des gefallenen Mädchens in der Kirche von San Lorenzo ähnelte, trat sie auf Lorenzo zu, warf die Arme um ihn und schmiegte ihr Gesicht an seines. Von der Verzweiflung, mit der sie vor ein paar Monaten Pater Alvise in Verlegenheit gebracht hatte, war nichts mehr zu erkennen.
»Endlich bist du wieder zurück, mein Lieber! Ich dachte schon, ich sehe dich nie wieder! Schau, willst du mal sehen, was du verpasst hast?« Mit einer
Weitere Kostenlose Bücher