Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Heimat umso vieles höher ausfallen ließ als bei einem normalen Bürger.
Im Augenblick befand er sich auf einer Expedition nach Indien. Alle drei Monate ließ er eine oder zwei von den mitgebrachten Tauben aufsteigen. Nicht alle erreichten den heimischen Schlag, doch die wenigen, die ankamen, brachten Berichte über exotische, nie gesehene Völker und fremde Landschaften mit Gebirgen, die so hoch waren, dass ihre Gipfel für immer in den Wolken verborgen blieben.
Seit vor zwei Jahren ein Genuese namens Cristoforo Colombo im Auftrag der spanischen Krone einen kürzeren Seeweg nach Hinterindien entdeckt hatte, waren die seefahrenden Nationen der Welt bemüht, es ihm gleichzutun. Auch die Serenissima hatte auf geheimen Befehl des Consiglio einige Erkundungsschiffe mit gestohlenen Kopien der Seekarten des Genuesen ausgeschickt, doch die Gegenden und Völker, zu denen sie vorstießen, glichen in nichts denen der bekannten indischen Regionen, welche man erreichte, wenn man dem Landweg oder der langen, gefährlichen Seeroute rund um Afrika folgte. Inzwischen gab es fachkundige Geographen, die der Meinung anhingen, dass die von Colombo entdeckte Region nicht das Geringste mit Indien zu tun hatte.
Ein livrierter Diener trug ein Tablett mit Erfrischungen herum. Lorenzo nahm ein Glas Wein und nippte daran. Er war schal und viel zu warm.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Gelehrte den Saal verließ. Der Zehnerrat, auf dessen Einladung sie hier waren, legte wie viele andere Patrizier Wert darauf, seine Gesellschaften mit Künstlern, Wissenschaftlern oder hoch stehenden Würdenträgern zu schmücken, doch anscheinend war es dem Mathematiker unter all den schwitzenden Diplomaten und Politikern zu langweilig geworden. Oder es war ihm in seiner Mönchskutte zu heiß, und er brauchte frische Luft.
Lorenzo hatte die neue Abhandlung des Franziskaners noch nicht gelesen, aber in gebildeten Kreisen ging bereits wie ein Lauffeuer die Behauptung um, Pacioli habe damit ein Jahrtausendwerk geschaffen, vergleichbar den Lehren Euklids, Erathostenes’ und Pythagoras’. Angeblich steckte er bereits in neuen Forschungen, mit denen er die vorangegangenen noch in den Schatten stellen wollte.
Lorenzo entschuldigte sich bei seinem Gastgeber und folgte Luca Pacioli ins Freie.
Die Mittagshitze traf ihn wie ein schwerer Hammer. Die Luft flimmerte über dem Pflaster und lag wie Blei auf dem Wasser der Kanäle. Draußen in der Lagune trieben Schwärme von toten Fischen, die aufgeblähten Bäuche zur Wasseroberfläche gekehrt. Ein Hauch von Wüste schien sich auf die Stadt gesenkt zu haben, mit dem Unterschied, dass hier die Nächte keine Abkühlung brachten. Lorenzo trug kein Wams und hätte sich am liebsten auch noch das dünne Baumwollhemd vom Leib gerissen, so wie die Gondoliere und Lastenschiffer, die den Canalezzo bevölkerten und deren nackte Oberkörper in der Sonne glänzten.
Luca Pacioli hatte sich mitten auf der belebten Fondamenta zu dem jungen Burschen und Sanchia gesellt und unterhielt sich mit ihnen. Beide schauten mit offener Ehrfurcht zu dem Mathematiker auf, als sei er kein ältlicher, schmallippiger, mit einem Doppelkinn geschlagener Mönch in einer nassgeschwitzten Kutte, sondern ein Held in einer schimmernden Rüstung.
Lorenzo fragte sich missmutig, was der Kerl entdeckt hatte, um solche Bewunderung zu verdienen. Die doppelte Buchführung konnte es nicht sein, obwohl man ihm seit der Veröffentlichung der Summa auch diese zuschrieb. Die Compagnia di Caloprini wandte die Methode jedoch schon seit Jahren an, und soweit Lorenzo wusste, war sie auch davor schon bei den Medici gebräuchlich gewesen.
Sein Blick sog sich an Sanchia fest. In seiner Vorstellung hatte sie sich bisher nicht verändert, aber in Wahrheit war sie schon lange nicht mehr das Kind von damals. Überrascht stellte er fest, dass sie in den letzten dreieinhalb Jahren gewachsen sein musste, mindestens eine Handbreit. Die Proportionen ihres Körpers hatten sich ebenfalls verändert, was trotz ihres formlosen grauen Sommerkleides leicht zu erkennen war. Ihre Brüste und ihr Hinterteil hatten sich deutlich gerundet. Auch ihre Gesichtszüge waren weiblicher geworden, doch an Lieblichkeit hatten sie nichts eingebüßt, im Gegenteil. Sie hatte denselben Herzkirschenmund wie damals. Auch das, was er von ihrem Haar sehen konnte, war immer noch eine Mischung aus Flachs und Gold.
Lorenzo starrte sie an und versuchte, seiner wachsenden Unruhe Herr zu werden. So, wie
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