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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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sie sich seinen Blicken darbot, verschwitzt und mit dem Blut des Bettlers besudelt, in ihrem schlaff herabhängenden Kleid und den plumpen Holzschuhen, das Haar bis auf ein paar entwichene Locken unter einer stumpfgrauen Haube verborgen, hätte sie wie jede beliebige Dienstmagd in der Menge untergehen müssen. Doch das tat sie nicht. Sie hatte seine volle Aufmerksamkeit.
    Zerstreut winkte er einem Melonenverkäufer und kaufte ein Achtel einer aufgeschlagenen Frucht. Nach dem schalen, zu süßen Wein von vorhin brannte seine Kehle vor Durst.
    In dem Augenblick, als er hineinbiss, schaute sie auf und sah ihn.
    Pacioli schien recht angetan vom Interesse des jungen Deutschen und der Venezianerin. Sichtlich geschmeichelt hob er an, den Stand seiner Forschungen aus der Proportionenlehre zu erläutern, als Sanchias Blick zufällig über seine rechte Schulter fiel.
    Lorenzo stand auf der Fondamenta vor einem neu erbauten, in schreienden Farben gestrichenen Palazzo, an dessen Anlegestelle eine Reihe Gondeln dümpelten. Das grelle Blau des Fassadenanstrichs schien sich in Lorenzos Augen widerzuspiegeln, und das satte Rot, in dem die Stürze über den Fenstern und Toren abgesetzt waren, wiederholte sich in der Melonenspalte, von der er abbiss. Über die tropfende Frucht hinweg starrte er sie an, intensiv, hungrig. Sein Blick traf sie mit solcher Urgewalt, dass ihr ein leiser Laut des Schreckens entwich.
    Sie handelte planlos, rein instinktiv. Bevor sie erst anfangen konnte, nachzudenken, hatte sie sich bereits umgedreht und lief davon.
    »Aber Sanchia!«, schrie der Deutsche ihr nach. »Was habt Ihr denn?«
    Er rief noch mehr, doch sie war bereits um die nächste Ecke gebogen und konnte ihn nicht mehr verstehen. Ihr Herz raste in unregelmäßigen Sprüngen und setzte kurz aus, denn im nächsten Augenblick legte sich eine Hand auf ihre Schulter und riss sie herum. Lorenzo stand vor ihr, und auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck von Entschlossenheit, in die sich deutliche Wut mischte.
    »Was zum Teufel ist los mit dir?«, fuhr er sie an. »Was habe ich dir getan?«
    Sie atmete schwer, vom Laufen und weil sie plötzlich Angst vor ihm hatte. Er war ihr zu nahe. »Lass mich!«
    Doch er drängte sie gegen die nächste Hauswand und blieb auf Tuchfühlung vor ihr stehen. Er hatte ihre Schulter losgelassen, doch sein Körper versperrte ihr die Flucht. Sanchia schlug die Augen nieder. Ihre Brust hob und senkte sich heftig, während sie versuchte, genug Luft in ihre Lungen zu ziehen.
    »Warum läufst du vor mir davon? Bin ich dir zuwider? Oder ängstigst du dich vor mir?«
    Sie gab keine Antwort.
    Er wiederholte seine Frage. »Was habe ich dir getan? Was waren deine Beweggründe? Ging es dir um Rache?«
    »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, stieß sie hervor, immer noch atemlos. Ihr Hals war wie zugeschnürt, und sie dachte einen Moment lang, dass sich so das Opfer einer heimlichen Hinrichtung in den Kerkern der Signoria fühlen musste. Nur, dass sie hier in aller Öffentlichkeit ihrem Schicksal gegenüberstand und dass sich niemand darum scherte. Sie erwog einen Augenblick lang, um Hilfe zu rufen. Hier am Rialto herrschte reges Markttreiben. Die Menschen, die um sie herum ihren Geschäften nachgingen, würden ihr helfen. Zumindest würden sie dafür sorgen, dass er sie nicht länger festhalten konnte. Sie reckte sich, um über seine Schulter blicken und so ihre Aussichten besser einschätzen zu können. Links von ihnen war der Kanal, rechts eine Bäckerei, vor der sich Passanten tummelten.
    Er schien ihre Gedanken zu lesen. »Versuch es gar nicht erst. Mir würden sicher bessere Argumente einfallen als dir. So könnte ich etwa sagen, du wärst eine ungehorsame Magd. Was meinst du, wem sie eher glauben, dir oder mir?« Vorsorglich legte er beide Hände auf ihre Schultern, ohne die Melonenspalte loszulassen. Der Fruchtsaft lief klebrig und kühl in den Ausschnitt ihres Kleides und zog eine Spur zwischen ihren Brüsten.
    Sie spürte seine Blicke wie Feuer auf ihrer Haut. Sie folgten der dünnen blassroten Linie des Saftes. Als sie blinzelnd die Augen aufschlug, sah sie sein Kinn mit dem dunklen Bartschatten und der winzigen Kerbe, die Andeutung einer Teilung.
    »Bitte«, sagte sie.
    »Bitte was? Bitte, Lorenzo, lass uns reden? Einverstanden. Ich stehe hier und warte auf deine Erklärungen.«
    »Ich wüsste nicht, was ich zu erklären hätte.«
    »Wie wäre es für den Anfang mit dem Besuch der werten Äbtissin bei meinen

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