Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Eltern?«
Sanchia merkte, wie glühende Röte in ihre ohnehin schon erhitzten Wangen stieg.
»Was soll ich dazu sagen.« Eingeschüchtert und gleichzeitig gereizt setzte sie hinzu: »Sie war bei euch, um zu tun, was nötig war.«
Sein Körper spannte sich an, und Sanchia begriff, dass seine Wut wesentlich stärker war, als sie bisher angenommen hatte. Ihr Ärger wich handfester Furcht, die bei seinen nächsten Worten noch stärker wurde. Er explodierte förmlich.
»War es nötig , sie mit einer Botschaft auszuschicken, die mich als sittenlosen Strolch darstellte? Als jemanden, der Briefe zweifelhaften Inhaltes an unschuldige Nonnen schreibt, um sie zu verführen und sie ihrem Glauben zu entfremden?«
Sanchia hatte keine Ahnung, was genau Annunziata bei jenem Besuch vor mehr als drei Jahren in der Ca’ Caloprini gesagt hatte. Sie wusste nur, dass es gewirkt hatte, und das allein war es, was für sie zählte.
»Ich habe lange darüber nachgedacht«, sagte er mit gefährlich ruhiger Stimme, während der Griff seiner Hände an ihren Schultern fester wurde, so fest, dass es ihr wehtat. »Ja, es muss Rache gewesen sein, Rache für den unseligen Botengang unseres Sklaven, als du und Eleonora noch Kinder wart. Was sonst.«
Sie duckte sich ein wenig, als könnte sie so seinem Geruch entweichen, der ihr mit unvermittelter Heftigkeit in die Nase stieg. Fruchtsaft, Wein, Schweiß, Seife und etwas anderes, das sie nicht kannte, aber ihre Sinne verwirrte.
Rache, dachte sie. Ja, vielleicht.
»Es wäre eine Art ausgleichende Gerechtigkeit«, hatte Annunziata gesagt. »Und dann solltest du ihn schnellstmöglich vergessen. Wie gut, dass du keine Tränen hast. Für niemanden sonst, und auch für ihn nicht. Er ist es nicht wert.«
»Nicht, dass ich ihr geglaubt hätte.« Lorenzos Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Das tat ich erst, als sie mir deinen Brief gab.«
Sanchia presste sich mit dem Rücken fest gegen die Hauswand, als könnte sie so seinen bohrenden Blicken ausweichen. In ihrem Kopf gerieten die Ereignisse durcheinander, bis sie nicht mehr wusste, was früher und was später passiert war.
Vergesst ihn, Kinder. Er ist es nicht wert. Wie gut, dass du keine Tränen hast. Er ist es nicht wert.
»Obwohl es keine Rolle spielt«, sagte Lorenzo leise und immer noch angespannt, »und nur der Vollständigkeit halber: Deine Rache zielte ins Leere. Es war nicht meine Botschaft, die Rufio damals überbrachte.«
Unsicherheit und Wut kämpften in ihr um die Oberhand. Die Wut gewann und löschte sogar die Furcht aus. Sanchia hob beide Hände und stieß ihn von sich.
»Du hast Recht«, rief sie. »Es spielt tatsächlich nicht die geringste Rolle! Denn ein sittenloser, gewissenloser Strolch bist du trotzdem!« Und dann warf sie ihm das schlimmste Schimpfwort an den Kopf, das sie je gehört hatte. Sie hätte nie geglaubt, dergleichen je über die Lippen bringen zu können, doch in diesem Moment fiel ihr nichts leichter als das. Mehr noch: Es drängte förmlich aus ihr heraus, und hätten ihr noch andere, gemeinere Ausdrücke zu Gebote gestanden – sie hätte nicht gezögert, ihn auch damit zu titulieren.
Sie nutzte seine Verblüffung aus und drängte sich an ihm vorbei. Mit einer raschen Drehung ihres Körpers wich sie einer Gruppe von Marktbesuchern aus, dann setzte sie mit gerafften Röcken über ein paar Mehlsäcke hinweg, die vor dem Bäckerladen gestapelt waren. Der Träger, der gerade im Begriff gewesen war, sie säuberlich übereinanderzuschichten, prallte erschrocken zurück, als bei einem der Säcke das grobe Leinen riss und eine weißliche Staubwolke aufstob.
Sanchia scherte sich nicht um seine Flüche, sondern rannte die lange, gerade Calle hinunter, die rechterhand zum Fischmarkt führte. Sie war in der falschen Richtung unterwegs, doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Wenn sie nicht zum Ponte Rialto zurückgelangte, würde sie eben irgendwo eine Gondel mieten müssen. Moses, der vermutlich schon am Rialto auf der Suche nach ihr war, würde sich hoffentlich bald ohne sie auf den Heimweg machen.
Auf ihrer Flucht verlor sie zuerst ihre Haube, dann einen Schuh. Die Haube flatterte einem Hund vor die Nase, der sofort danach schnappte und knurrend daran riss. Der Schuh kreiselte ein paarmal auf dem Pflaster und purzelte über die Fondamenta in einen Kanal. Nach ein paar unbeholfenen Schritten schleuderte sie mit einem kräftigen Tritt in die Luft auch den zweiten Schuh davon, um besser laufen zu
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