Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
der im nächsten Moment seinen Bannstrahl auf sie herabschleudern würde.
Dann nahm er ihre Hand, sanft und alles andere als rachsüchtig, und der Ernst auf seinen Zügen wich einem Lächeln. »Arme kleine Taube«, sagte er. »Ich habe dich ganz schön umhergejagt, nicht wahr?«
Sie schluckte gegen die plötzliche Trockenheit in ihrer Kehle, außerstande, ihm zu antworten. Ihr Inneres schien sich unter seinen Blicken aufzulösen, und auch ihre Glieder wurden seltsam schwach und gehorchten ihrem Willen nicht mehr. Sie wollte ihm ihre Hand entziehen, doch sie schaffte es nicht. Sie konnte nicht einmal ihre Finger bewegen. Alles, was sie fertigbrachte, war, ihn zu spüren. Den Druck seiner Hand, die Berührung seines Oberschenkels an ihrer Hüfte, den Blick seiner Augen, die in dem matten Licht fast schwarz wirkten.
Sein Atem fuhr über ihre Wange, als er sich ein wenig vorbeugte und seine Stirn gegen ihre legte.
»Sanchia«, flüsterte er.
Sie sog heftig die Luft ein, während ihr Körper zu absoluter Reglosigkeit erstarrte.
»Nicht«, sagte sie hilflos.
»Doch. Deine Briefe haben mir gefehlt. Deine klugen, trockenen, naiven, übersprudelnden, lustigen, traurigen, unverzichtbaren Briefe. Und es hat mir gefehlt, dir zu schreiben. Es war … es war, als hätte man ein Stück von meinem Leben abgeschnitten.« Er hielt kurz inne, dann fuhr er fort: » Du hast mir gefehlt.« Es klang verwundert, fast so, als sei er selbst gerade erst zu dieser Erkenntnis gelangt. »Ich war an vielen Orten, aber sie blieben ohne Glanz, weil ich sie dir nicht beschreiben konnte. Gott, wie oft habe ich auf dem Dach oder am Heck irgendeiner Galeere gestanden und gehofft, dass die Tauben das nächste Mal wieder eine Nachricht von dir bringen. Eine Nachricht, in der du mir schriebst, dass alles ein Irrtum war.« Er bewegte sich ein Stück von ihr weg, damit er sie anschauen konnte. »Sprich mit mir. Sag mir, dass es ein Irrtum war. Oder sag mir wenigstens, wofür ich mir die Schuld geben muss.«
Sie blieb stumm. Geräusche von außen schienen zäh durch das dunkel gefärbte Leinen des Verdecks zu tropfen, wie Wachs, das von einer Kerze rinnt. Weit entfernte Rufe von den Ufern des Canalezzo, das Lachen eines anderen Ruderführers, der Gesang eines weiteren. Und aus der Nähe das Schaben und Knarren des Ruderholzes in der Forcola, das Platschen beim Eintauchen des Blattes sowie das leichte Schnaufen ihres Gondoliere.
Es war erstickend heiß in der abgehängten Felze, die Luft förmlich aufgeladen mit den Gerüchen ihrer Körper und den vielen Worten, die unausgesprochen zwischen ihnen standen.
»Sanchia.«
Sie schöpfte zitternd Atem und erzählte ihm, was sie damals bei der Lichtmessprozession beobachtet hatte.
Danach herrschte Schweigen zwischen ihnen.
»Drei Jahre«, sagte er schließlich leise. »Drei Jahre haben wir verloren. So viele Reisen. So viele Briefe. So viele einsame Flüge der Tauben.«
Er legte die Hand unter ihr Kinn und hob es an, seine Augen dicht vor den ihren, seine Lippen nur einen Fingerbreit von ihrem Mund entfernt.
»Sanchia, hast du mich vermisst? Habe ich dir gefehlt? Hast du manchmal wach gelegen in deinem Bett und an mich gedacht? Hast du dich gefragt, wie es mit uns beiden hätte werden können, wenn alles anders gekommen wäre?«
Sie schloss die Augen und fühlte die Tränen, spürte ihnen nach wie ein Blinder einer verwischten Fährte, die er allem Tastsinn zum Trotz niemals sehen kann. Das ganze Innere tat ihr weh, als hätte ein Riese mit harten Stiefeln die freiliegenden Nerven zertrampelt, um danach achtlos davonzugehen. Ein schwaches Schluchzen stieg in ihr auf und verschwand wieder, bevor es sich Bahn brechen konnte, zusammen mit den Tränen, die es irgendwo in ihr gab, nur nicht hier und nicht jetzt. Zurück blieb der wühlende Schmerz, der die ganzen Jahre über dicht unter der Oberfläche verborgen geblieben war.
»Wenn man sehr jung ist, denkt man, dass derlei Dinge immer wieder geschehen können. Man ist davon überzeugt, dass die Faszination der beiderseitigen Übereinstimmung beliebig oft wiederholbar ist.« Seine Stimme klang eigentümlich schleppend, mit einem Unterton von Trauer. »Aber im Laufe der Jahre begreift man, wie selten und kostbar es ist, einem Menschen zu begegnen, der einem das Gefühl gibt, dass aus zwei verlorenen Hälften ein Ganzes entsteht.«
Seine Worte waren wie ein Windstoß, der über Asche fährt und die darunter verborgene Glut zum Flackern
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