Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
es scherte sie nicht. Das war ein Vorteil, den jahrelange Krankenpflege mit sich brachte. Ausscheidungen aller Art gehörten ganz selbstverständlich mit dazu. Man kümmerte sich nicht darum, außer, indem man sie untersuchte oder wegwischte.
Eleonora erbrach sich ein weiteres Mal, diesmal auf den Fußboden, dann taumelte sie von Sanchia weg und bückte sich. Als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie den Dolch des Deutschen in der Hand.
Sanchia erkannte zu spät, was Eleonora vorhatte. Mit einem schrillen Aufschrei fiel ihre Zimmergenossin über den Sterbenden her und stieß die Klinge in alle Teile seines Körpers, die sie erreichen konnte. In den Hals, den Bauch, die ungeschützten Genitalien. Auf Letztere konzentrierte sie sich dann mit weiteren Stößen, bis davon nur noch eine breiige Masse übrig war, die im Lampenschein feuchtschwarz glänzte.
Sanchia wollte dazwischengehen, Eleonora anschreien, dass er doch längst tot wäre. Doch sie blieb stumm und rührte keinen Finger. Es war, so erkannte sie in einem Augenblick hellsichtiger Klarheit, nicht falsch, was Eleonora tat. Sie übte auf ihre Weise Gerechtigkeit, und daran durfte sie niemand hindern. Vielleicht war das hier der erste wichtige Schritt zu einer Heilung, die sie sonst niemals würde erlangen können.
Sanchias Lippen und ihr Gesicht fühlten sich taub an, als sie der Schwäche nachgab, die sich in ihrem ganzen Körper auszubreiten begann. Teilnahmslos sackte sie in die Knie und blieb auf der anderen Seite der Leiche hocken, die Blicke fest auf Eleonora gerichtet. Das Haar ihrer Freundin war blutgetränkt und bauschte sich wie die blasphemische Version eines Heiligenscheins um ihren Kopf, und das Kerzenlicht ließ ihre geschlitzten Augen in der Dunkelheit leuchten wie bernsteingelbe Flammen.
Das Blut des Toten spritzte über den Küchenboden und benetzte Sanchias nackte Schultern, während Eleonora wieder und wieder auf ihn einstach und dabei Worte vor sich hinstammelte, die Sanchia erst nach wiederholtem Lauschen als einen Psalm erkannte.
»Wie lange sollen die Frevler frohlocken? Sie fließen über vor frechen Reden, sie prahlen, die Übeltäter! Sie denken, der Herr sieht es nicht!« Eleonora schüttelte wie von Sinnen den Kopf, während das Messer mit einem Knirschen auf den Schambeinknochen des Toten traf. »Wer Völker züchtigt, soll nicht strafen? Er, der die Menschen Erkenntnis lehrt? Der Herr weiß um die Gedenken der Menschen, er weiß, dass sie ein Nichts sind!«
»Eleonora«, sagte Sanchia. »Jetzt ist es genug. Hör auf!«
»Er hat mir wehgetan! Er hat … mir weh getan!«
»Ich weiß. Aber er ist tot! Lass ihn!«
»Du … hast ja nicht alles gesehen. Du warst nicht hier. Erst am Schluss. Du hast nicht gesehen, wie er …« Eleonora verstummte.
»Gib mir den Dolch. Gib ihn mir.«
Eleonora betrachtete blicklos das Messer. »Selig der Mann, den du, Herr, erziehst, den du aus deinem Gesetze belehrst, ihm Ruhe zu geben vor bösen Tagen, bis man dem Frevler die Grube gräbt.« Sie stieß den Dolch hart in den Nabel des Toten und riss ihn sofort wieder heraus.
Sanchia fuhr herum, als von draußen fassungslose Rufe laut wurden. Während Eleonora immer noch ihren schaurigen Totentanz über der Leiche ihres Schänders aufführte, waren vor der offenen Küchentür eine Schar Männer erschienen. Sanchia erkannte den Dominikaner als Ersten, obwohl er sich im Hintergrund hielt. Um ihn herum drängten sich mehrere Büttel.
»Da sind sie!« Ambrosio schlug mehrmals das Kreuzzeichen. »Die Dienerinnen Satans! Sie missbrauchen das Wort des Herrn für ihre Teufelsmessen! Sie verüben ihr gottloses Werk, genau wie vor vielen Jahren!« Aus seiner Stimme klangen echtes Entsetzen und tiefe Furcht. »Sie treiben das Messer tief in den Leib des Unschuldigen! Es wird geführt durch die Hand des Bösen, Messères, wie ich es Euch geschildert habe! Seht selbst, und waltet rasch Eures Amtes!«
»Doch wenn ich dachte, es wanke mein Fuß, da stützte mich, Herr, Deine Hand«, rezitierte Eleonora monoton aus dem Psalm der Rache, während sie ein letztes Mal den Dolch hoch über ihren Kopf hob und ihn herabstieß, zwischen die Beine des Toten.
Der erste Büttel, der bereits näherkam, prallte mit einem Laut des Abscheus zurück, als ihm ein Gegenstand vor die Füße flog, ein blutiger runder Klumpen von der Größe einer dicken Traube. Es war, wie Sanchia registrierte, einer der Testikel des Toten, sauber mit einem Hieb abgetrennt und seiner Haut
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