Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
reagierte mit Verzögerung. Er vollführte noch zwei plumpe Stöße, bevor er die Hand vom Gesicht seines Opfers löste und sich schwerfällig an den Hals griff. Im matten Licht der Talglampe erkannte Sanchia das verständnislose Flackern in seinen Augen, als er sie über die Schulter hinweg anstarrte, als würde er erst jetzt begreifen, dass noch jemand im Raum war, außer ihm und der Frau, die er vergewaltigte.
Torkelnd wich er einen Schritt vom Tisch zurück, die Hand immer noch gegen die Stelle gedrückt, wo sein Hals in die rechte Schulter überging. Aus seinem weit geöffneten Mund kamen lallende Geräusche. Er hob die linke Hand, und Sanchia sah das schwache Blitzen der Messerklinge. Vermutlich hatte er sie benutzt, um Eleonora gefügig zu machen, nachdem er sie allein in der Küche angetroffen hatte.
Der Deutsche hob den Dolch, doch statt zuzustoßen, ließ er die Waffe im nächsten Augenblick wieder sinken. Ein Ausdruck von Verblüffung trat auf sein Gesicht, während er die Hand von seinem Hals nahm und sie anstarrte. Sie war blutüberströmt.
Eisige Finger strichen über Sanchias Wirbelsäule, als sie den rhythmisch sprudelnden Strom sah, der aus einer Wunde dicht oberhalb seines Schlüsselbeins schoss.
Ihr Blick glitt zu ihrer eigenen Hand. Sie hielt immer noch das Skalpell umklammert; sie hatte es völlig vergessen. Hastig schob sie es in den Beutel an ihrem Gürtel, als würde es ihr die Finger verbrennen, wenn sie es länger festhielte.
Der Deutsche grapschte nach ihr, und zu ihrem Entsetzen gelang es ihm, sie zu packen. Er erwischte eine Hand voll Stoff von ihrem Gewand und riss es von der Schulter bis zur Hüfte auf. Ihr Brusttuch und ihr Unterkleid klafften auf, und als Sanchia eilig einen Satz rückwärts tat, stand sie mit entblößtem Oberkörper da.
Der Bader machte einen Schritt nach vorn, blieb dann aber stehen und versuchte, mit der freien Hand seine Wunde zuzudrücken. Ein paar Augenblicke mochte es ihm noch gelingen, aber Sanchia wusste, dass seine Mühe vergebens war.
Sie stöhnte erleichtert auf, als sie sah, dass Eleonora sich unbeholfen vom Tisch hochrappelte. Ihr mochte Entsetzliches widerfahren sein, aber sie würde es überstehen. Doch es folgte ein weiterer Moment des Schreckens, als sie das Blut sah, das aus Eleonoras Hals rann, fast so, als würde sich dort auf Furcht erregende Weise die Wunde des Baders spiegeln.
Doch gleich darauf stellte Sanchia fest, dass die Verletzung im Vergleich zu der des Deutschen harmlos war. Es blutete zwar, aber dem war mit einem leichten Verband beizukommen.
Den Deutschen dagegen konnte nichts mehr retten, weder ein Verband noch sonstige ärztliche Kunst. Niemand musste ihr sagen, dass es so war, sie wusste es von allein. Nicht, dass sie bereits so viele Menschen auf diese Weise hatte sterben sehen. Nur einen Einzigen, vor einem Dutzend Jahren, im Beisein ihres Vaters und zweier Mörder.
Regungslos verfolgte Sanchia, wie der Bader das Messer fallen ließ, um beide Hände für seine Wunde frei zu haben und das Blut zum Stillstand zu bringen. Sanchia hätte ihm sagen können, wie sinnlos das war, doch sie zweifelte daran, dass er sie hätte hören können. Als hätte ihm jemand in die Kniekehlen getreten, sackte er zu Boden, das Zerrbild eines Mannes, der auf die Knie gesunken war, um zu beten. Die ganze Zeit über floss das Blut aus seinem Hals wie ein steter Wasserstrom aus einem Brunnen. Aus seinem Mund drangen weitere unartikulierte Laute, vielleicht Worte in seiner Heimatsprache, doch sie waren kaum noch hörbar. Seine Hände fuhren durch die Luft, als wollten sie nach einem rettenden Seil greifen, das nur seine Augen sehen konnten. Dann brach er vollends zusammen und fiel mit einem ekelhaft klatschenden Geräusch vornüber aufs Gesicht. Er lebte immer noch. Sein Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch, der auf dem Holzbrett des Koches den tödlichen Stich in die Kiemen erwartet.
Sanchia warf ihm einen letzten Blick zu, dann beachtete sie ihn nicht weiter, sondern stieg über ihn hinweg, um zu Eleonora zu gelangen, die schwankend vor dem Tisch stand und sich mit beiden Händen an der Kante festklammerte.
»Lass mich deine Wunde sehen.« Sie fasste nach Eleonoras Arm und drehte sie zu sich herum.
Eleonora gab ein würgendes Geräusch von sich, und im nächsten Moment übergab sie sich in hohem Bogen. Sanchia wurde von der Brust bis zu den ohnehin schon schmutzigen Schuhen von dem säuerlich stinkenden Schwall getroffen, doch
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