Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
schweigend vor sich hin.
Sanchia wollte ihr folgen, doch sie fühlte sich so elend, als sei sie gestorben und nur halb wieder zum Leben erweckt worden, von einem stümperhaften Schöpfer, der ihr zwar die Gnade gewährt hatte, zu sehen und Schmerz zu fühlen und ihren Mageninhalt von sich zu geben, aber die übrigen Funktionen ihres Körpers schlicht vergessen hatte.
Sanchia atmete ein und rollte sich zur Seite, um sich aufzusetzen. Der Schmerz hämmerte hinter ihrer Stirn und ihren Schläfen, und ihr Magen krampfte sich erneut zusammen, doch außer blasigem Speichel kam diesmal nichts zwischen ihren Lippen hervor, obwohl sie endlose Augenblicke lang würgen musste.
Giulia machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Reglos saß sie auf der einzigen vorhandenen Holzpritsche und schaute zu, wie Sanchia sich unter Aufbietung aller Kräfte auf die Knie stemmte und dann zu Eleonora hinüberkroch, um beide Arme um sie zu legen.
Eleonora versuchte, sich ihrer Umarmung zu entwinden, blieb dann aber teilnahmslos sitzen. Sie zitterte so heftig, dass Sanchia ihre Zähne aufeinanderschlagen hörte.
»Es wird alles gut«, sagte Sanchia. »Wir sind bald wieder frei, dann wird dir alles nur noch wie ein böser Traum erscheinen!«
»Wenn du das glaubst, bist du schon einen Schritt weiter als ich«, sagte Giulia ohne erkennbare Emotionen in der Stimme.
Sanchia hockte sich auf die Fersen und stützte sich an der Wand ab, als die plötzliche Bewegung die Übelkeit wieder verstärkte.
Gestank lag in der Luft wie ein dichtes Tuch, eine Mischung aus Moder, Exkrementen, Aas und verfaultem Stroh. Überlagert wurde dieser Dunst von dem unverkennbar durchdringenden Geruch, der von erstarrtem Blut ausgeht.
In der gegenüberliegenden Wand der aus groben Ziegeln gemauerten Zelle waren Eisenstäbe in eine Öffnung eingelassen, die in Augenhöhe auf einen gepflasterten Hof hinauswiesen, der vom schwindenden Tageslicht gerade noch erhellt wurde.
Sanchia hatte gehört, dass die Räumlichkeiten, in denen Häftlinge untergebracht wurden, auf verschiedene Bereiche des Gebäudes verteilt waren. Manche Gefangene wurden in den Bleikammern im obersten Stockwerk eingesperrt, andere in unterirdischen Kerkern, und ein Teil der Inhaftierten wurde auch in Zellen wie diese gesteckt, die von außen sichtbar waren und vor denen Schaulustige stehen bleiben und die Gefangenen verhöhnen konnten. Sanchia hatte selbst schon erlebt, wie Gassenjungen lebende Ratten und anderes Ungeziefer in die von der Straße aus einsehbaren Zellen geworfen hatten und anschließend johlend vor den Ordnungshütern davongerannt waren.
Sanchia suchte flüchtig mit den Blicken die Zelle ab und erschauerte, als sie inmitten eines auseinandergetretenen Strohhaufens dicht neben einem übel riechenden Fäkalienkübel einen länglichen, bepelzten grauen Schatten liegen sah.
»Keine Sorge, das da drüben ist nicht unser Frühstück«, sagte Giulia. »Das Frühstück besteht aus Zwieback. Der ist gar nicht so schlecht, wenn einem die Maden nichts ausmachen.«
»Wie lange bist du schon hier?«
»Seit vorgestern.«
»Was hast du getan?«
Darauf gab Giulia keine Antwort. Ihre Miene blieb unbewegt. »Heute ist Sonntag. Bis morgen Mittag wird hier nicht viel passieren. Sobald das zuständige Gericht zusammentritt – ich nehme an, im Laufe des Vormittags sind die Herren wach genug und werden sich im Dogenpalast einfinden –, werden wir zum Verhör geführt. Hast du irgendwas bei dir? Geld? Schmuck?«
»Um uns freizukaufen?«
Giulia lachte. Es klang überraschend melodisch, ein leiser Glockenklang in der tristen Umgebung. »Freikaufen? Niemand, der in dieses Gefängnis kommt, wird ohne die Genehmigung des Zehnerrats wieder entlassen. Wir leben in einem ordentlichen Staat. Hier werden die Gesetze hochgehalten. Die Avogadori werden sogar unsere Rechte als Gefangene und Angeklagte beachten. Wir erhalten amtlichen Beistand, auch während der Folter. Jemand wird darauf schauen, dass es uns nicht umbringt. Aber foltern werden sie uns. Mich auf jeden Fall, denn ich habe mich verstockt gezeigt. Euch beide – nun ja. Die Wahrscheinlichkeit ist groß. Ich habe gehört, wie die Wärter sich über euch unterhalten haben. Mord, Kastration, Hexerei … Das muss eine ganz schöne Schweinerei gewesen sein, jedenfalls danach zu urteilen, wie ihr ausseht. Eines ist sicher: Auch mit noch so viel Bestechungsgeld kommt ihr hier nicht ungeschoren raus.«
Giulia hatte ein Wort gesagt, dass in Sanchias vor
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