Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
nachdenken konnte, wann und wo sie die Frau schon einmal gesehen oder gehört hatte, war jemand an ihrer Seite und tastete über ihr Gesicht.
»Sie ist wach.«
Diese Stimme kannte Sanchia ganz zweifelsfrei, sie gehörte Eleonora, und Sanchia setzte an, Fragen zu stellen. Doch außer einem schwachen Stöhnen drang nichts über ihre Lippen, und im nächsten Moment merkte sie, dass sie sich übergeben musste.
Sie konnte nichts dagegen tun, sich weder aufsetzen noch eine Warnung geben, nicht einmal die Hand vor den Mund halten oder den Kopf zur Seite drehen. Folglich ließ sie es einfach herauskommen und hoffte, nicht daran zu ersticken.
Danach schaffte sie es, den Kopf zu bewegen. Ungeachtet der neuen Schmerzwelle, die sie erfasste, wischte sie sich den Mund ab und drehte dann das Gesicht zur Seite, um ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Angesichts der Dunkelheit und der modrig feuchten Luft hatte sie es schon vermutet, aber es nun mit eigenen Augen zu sehen erfüllte sie mit Furcht. Sie befand sich in einer Gefängniszelle. Eleonora hockte neben ihr, mit Blut und Erbrochenem besudelt, das Gesicht starr vor Anspannung. Ein paar Schritte entfernt, an der gegenüberliegenden Wand, lehnte eine Frau. Sanchia erkannte sie sofort, und trotz ihrer misslichen Lage verursachte ihr der Anblick einen heftigen inneren Stich. Lorenzo hatte nach langem Drängen zugegeben, tatsächlich mit ihr im Bett gewesen zu sein, doch er hatte geschworen, sie nicht geschwängert zu haben. »Es lag über ein Jahr zwischen meiner letzten Begegnung mit ihr und der Andata. Ich verstehe vielleicht nicht viel von diesen Dingen, aber eines weiß ich gewiss: So lange kann auch die längste Schwangerschaft nicht dauern! Und wenn du es schon genau wissen willst: Sie ist eine stadtbekannte Kurtisane, und ich war bei weitem nicht der Einzige, der zu ihr ging. Vielleicht hat sie darauf gebaut, mir das Kind unterschieben zu können. Außerdem habe ich gehört, dass es später gestorben ist.«
Sanchia hatte ihm geglaubt, was war ihr auch anderes übrig geblieben? Es hatte sie dennoch verletzt, so unmittelbar erfahren zu müssen, dass sie nicht die einzige Frau in seinem Leben war. Sie hatte versucht, es zu akzeptieren, doch es war ihr schwergefallen. Er war ein vollendeter, erfahrener Liebhaber, und bei irgendwem musste er all die Kunstfertigkeiten, mit denen er ihr Lust verschaffte, schließlich gelernt haben. Trotzdem hatte sie noch für geraume Zeit mit einem üblen Nachgeschmack zu kämpfen, wenn sie an den Vorfall während der Andata dachte.
Der Name der Schönheit mit den kastanienroten Haaren und den grünen Augen war Giulia Vecellio, auch das hatte sie von Lorenzo erfahren.
Die Züge der jungen Frau hatten in den letzten Jahren einiges von ihrer blühenden Frische eingebüßt. Sie wirkte nicht gealtert, aber verhärmt.
Doch die leichten Linien, die sich um ihre Mundwinkel herum eingenistet hatten, konnten auch an den Strapazen und den Entbehrungen der Haft liegen, und das fehlende Strahlen und die schmalere Silhouette hingen vielleicht einfach damit zusammen, dass Sanchia sie vorher nur in schwangerem Zustand gesehen hatte.
Doch dann wandte Giulia ihr das Gesicht zu, und im schwachen Licht der Dämmerung war zu erkennen, dass sie alles andere als verbraucht aussah. Vielleicht war sie sogar noch anziehender als früher, denn der Schmerz und die Verzweiflung, die ihre Züge zeichneten, schienen absurderweise den Reiz ihres gemmenhaften Gesichts noch zu erhöhen.
All diese Gedanken zuckten wie Blitze durch Sanchias umnebelte Sinne
»Träumst du oder wachst du?«, fragte Giulia.
Sanchia schluckte und versuchte, den widerwärtigen Geschmack von Galle und kupfrigem Blut in ihrem Mund zu ignorieren. »Wie lange sind wir schon hier?«
Sie beobachtete Eleonoras Gesicht. Diese spürte ihre Blicke und wandte den Kopf zur Seite, doch Sanchia hatte den Ausdruck in ihren Augen bereits gesehen, eine eigentümliche Versunkenheit, als würde sie ihre Umgebung nur noch wie aus weiter Ferne wahrnehmen, fast so, als hätte sie eine übermenschlich schwierige Aufgabe erfüllt und müsse sich nun ausruhen.
Sanchia griff nach Eleonoras Hand und erschrak, als sie spürte, wie kalt deren Finger waren und wie sehr sie zitterten. Eleonora entzog ihr die Hand und kroch ein Stück rückwärts, zur Wand, wo sie mit gesenktem Gesicht hocken blieb. Das von eingetrocknetem Blut verkrustete Haar hing ihr über die Augen. Sie hielt ihre Knie umfasst und starrte
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