Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
nein! Ich wollte …« Sie brach ab und überlegte.
»Du wolltest es einfach nur wissen«, führte Piero den Satz für sie zu Ende.
Sie nickte lebhaft und griff zu Pasquales Unbehagen die Frage von vorhin wieder auf. »Jemand muss sie hinauftreiben und vom Turm stoßen. Warum?«
Pasquale wusste es ganz offensichtlich nicht, und damit er sich nicht vor Sanchia blamieren musste, sprang Piero in die Bresche.
»Es ist eine Verhöhnungszeremonie. Venedig feiert damit immer zu Karneval einen zweihundert Jahre zurückliegenden Sieg über Aquileia. Sie haben damals den dortigen Patriarchen ergriffen und zwölf seiner Kanoniker. Für den Gefangenenaustausch wurde seither ein Jahrestribut von zwölf Schweinen und einem Bullen verlangt, die jedes Jahr am letzten Donnerstag der Maskenzeit getötet werden.«
Sanchia starrte ihn fassungslos an. Nach einer Weile meinte sie leise: »Das ist … grausam.«
Piero sah die Betroffenheit in ihren Augen und gewann einen Eindruck dessen, was Bianca ihm hatte sagen wollen.
Doch eine Weile später waren die Schweine vergessen, und Sanchias gewohnter Optimismus brach sich wieder Bahn. Sie ließen San Michele hinter sich, und als sie die Hafeneinfahrt von Cannaregio passierten, holte Piero eilig das Segel ein.
»Zapple nicht herum«, befahl er Sanchia, und zu Pasquale sagte er: »Pass auf sie auf.«
Die Durchfahrt zum Hauptkanal war von Booten verstopft, was beim Rudern seine ganze Aufmerksamkeit erforderte.
Sanchia bemühte sich, still zu sitzen, obwohl sie am liebsten aufgesprungen und umhergelaufen wäre. Während Pasquale sie argwöhnisch im Auge behielt, schilderte sie mit entzückten Ausrufen, was auch immer sie gerade entdeckt hatte. »Seht nur, ein Schiff mit schwarzen Männern! Sind das Mohren? Und da drüben, die Gondel! Wie prächtig sie bemalt ist! Und diese da – sie hat ein Dach aus rotem Samt! Und schaut, da ist eine Barke, auf der werden Orangen verkauft! Ach, kann ich bitte nachher auch eine haben? Oh, wie viele Menschen unterwegs sind! Ist denn heute Markttag? Da, ein Mann mit einem komischen gewickelten Hut, ist das ein Türke oder ein Mongole?«
So ging es in einem fort weiter.
Irgendwann sah Piero seinen Gesellen von einem Ohr bis zum anderen grinsen. Anscheinend hatte er es geschafft, sich zu entspannen und Sanchias Geplapper einfach zu genießen. Auch Piero konnte nicht umhin, sich von ihrer Begeisterung anstecken zu lassen, und nach einer Weile gelang es ihm, die Einzelheiten ihrer Umgebung durch die strahlenden Augen seiner Tochter zu sehen. Indessen stellte Piero auch bald aufs Neue fest, dass hinter all dem Glanz der großen Stadt auch Tücken lauerten. Der Verkehr war hier geradezu mörderisch, und Gebrüll sowie Handgreiflichkeiten unter den Barcaruoli waren keine Seltenheit. Sie wurden Zeuge, wie der aufgebrachte Bootsführer eines Lastkahns einen Gegner ins Wasser stieß und ihm, als der bedauernswerte Mann wieder auftauchte, unter übelsten Verwünschungen das Ruderblatt über den Kopf zog.
Boote in allen Größen und Formen beanspruchten ihren Platz auf dem Kanal, doch vorwiegend waren die typischen Gondeln unterwegs, das Hauptverkehrsmittel von Venedig, ohne das es ein mühseliges und oft vergebliches Unterfangen gewesen wäre, von einem Ort der Stadt zum anderen zu gelangen.
Sanchia umklammerte mit leuchtenden Augen den Bootsrand, und Pasquale hockte auf Tuchfühlung neben ihr, bereit, beim leisesten Anzeichen von Bewegungsdrang zuzugreifen. Wie alle Bewohner im Hause Foscari wusste er genau, dass Sanchia kaum für die Dauer eines einzigen Avemaria still halten konnte.
Piero war gespannt auf den Augenblick, in dem sie in den Hauptkanal einbiegen würden, und tatsächlich reagierte Sanchia genauso, wie er es erwartet hatte. Allein der Ausdruck ihres Gesichts, als sich die beeindruckende Weite des Canal Grande vor ihnen auftat, entschädigte ihn für alle Zweifel und Ängste. Einen Moment war sie stumm, überwältigt von dem Anblick, der sich ihr bot. Das Wasser reflektierte Himmel und Sonne zugleich in einem fast unwirklichen Licht, ein flirrendes Zusammenwirken aus Silber, Blau und Gold. Die Palazzi, die das Ufer des Wasserbogens säumten, fügten dem Farbenspiel Nuancen von Weiß, Ocker und Pastell hinzu, und die geschwungenen Bogengänge und Loggien, die ihre Fassaden unterteilten, ähnelten aus der Ferne kostbarer Spitze.
Es war um die Mittagsstunde, und das Licht über dem Wasser war so hell, dass es in den Augen stach und die Umrisse
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