Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
am haltlosen Zittern ihrer Glieder merkte Lorenzo, wie es um sie stand. Sie half ihm dabei, Giulia zum Boot zu schleppen.
Die paar Gaffer, die vorhin auf der Brücke stehen geblieben waren, ließen sich vom Strom der Menge weiterziehen, in Richtung Piazetta, wo allerlei Rufe über Donnerwetter aus heiterem Himmel und brennende, stinkende Höllenschlünde laut geworden waren.
Sie würden es schaffen, erkannte Lorenzo plötzlich, und noch während er den Frauen auf das Boot half, fühlte er sich so leicht und von kühnem Übermut erfasst wie sonst nur auf hoher See, wenn er über die Wanten in das Krähennest kletterte und nichts über sich hatte als den Himmel, so weit und so klar, dass die Bläue in den Augen schmerzte und er die Luft anhalten musste, weil der Rand der Welt zum Greifen nah schien.
Er setzte an, ins Boot zu steigen. Sanchia, die auf der hinteren Ruderbank saß, hatte die Hand bereits zu ihm ausgestreckt, damit er sie ergreifen und so seinen Schwung abfangen konnte.
Bevor er den entscheidenden Schritt tun konnte, sah er, wie sich ihre Miene veränderte. Die Erleichterung in ihren Zügen wich eiskaltem Entsetzen. Sie starrte in Richtung Piazetta, und als er ihren Blicken folgte, sah er den Trupp Bewaffneter näherkommen. Die Helme und die blank gezogenen Schwerter blitzten in der Sonne, und die Stiefel trommelten exakt im selben Ton auf das Pflaster, den er vorhin bereits zu hören geglaubt hatte. Während er sich vage fragte, ob er auf geheimnisvolle Weise in die Zukunft geschaut hatte, fällte er die einzig vertretbare Entscheidung. Er zog beidhändig und gleichzeitig, Dolch wie Schwert, und warf sich den Angreifern entgegen.
Er sagte sich, dass unter diesen Männer vielleicht derjenige war, der Sanchia verletzt hatte, und allein die Vorstellung genügte, seinen Kampfgeist so weit zu beflügeln, dass er zwei der Büttel niedergestochen hatte, bevor er richtig nachdenken konnte.
Sechs oder sieben weitere setzten nach, behindert durch die Arkaden und die sich zusammenrottenden Gaffer, aber wild entschlossen, dem Recht Genüge zu tun.
Lorenzo schwang das Schwert in einem tödlichen Bogen von rechts nach links und traf einen weiteren Wachmann. Der Hieb schlitzte dem Mann das Jochbein auf und ließ ihn stöhnend zurücktaumeln. Einem anderen rammte Lorenzo den Dolch zwischen Harnisch und Hosenbund, und einem Dritten versetzte er einen zielsicheren Tritt in die Hoden. Von den drei verbleibenden stürzte einer über einen gefallenen Kameraden, geriet ins Stolpern und fiel schreiend über den Rand der Mole ins Wasser.
Lorenzo war sicher, es mit den beiden letzten Männern aufnehmen zu können, doch noch während er mit vor Anstrengung fliegenden Pulsen eine günstigere Kampfposition suchte, bekamen seine Gegner Verstärkung. Weitere Bewaffnete tauchten auf, und zu seiner Überraschung sah Lorenzo, dass Enrico Grimani unter ihnen war. Aus schmalen Augenschlitzen musterte er Lorenzo, ein dünnes Lächeln auf den Lippen. »Immer da, wo es Ärger gibt, wie?« Dann zeigte er auf das Boot. »Lasst sie nicht entkommen!«, brüllte er die Wachleute an. »Rasch, beeilt euch! Ergreift die Hure, die meinen Vater getötet hat!«
»Nimm das Ruder«, schrie Lorenzo in Sanchias Richtung, während er sich den herankommenden Wachleuten entgegenstellte. »Sieh zu, dass du wegkommst!«
»Das schafft sie nie, deine kleine Madonna«, sagte Enrico. Er näherte sich mit lässigen Bewegungen, das Schwert mit gespielt gelangweilter Miene zu Boden gesenkt. Als er von hinten angerempelt und zur Seite gestoßen wurde, ließ er einen wütenden Schrei hören und fuhr herum, doch der Angreifer war bereits an ihm vorbeigesetzt und aufs Boot gesprungen, das unter seinem beträchtlichen Gewicht schwankte und zu kentern drohte.
Lorenzo hörte Sanchias erleichterten Ausruf, und erst in diesem Moment begriff er, dass sie nicht bedroht wurde, sondern Hilfe erhalten hatte. Der Riese, der auf der Ruderbank Stellung bezogen hatte, zögerte keinen Moment. Er löste die Leine, packte das Ruder und stieß den Sàndolo von der Kaimauer ab. Die gewaltigen Muskeln an seinen bloßen Oberarmen spannten sich zum Zerreißen, als er den Kahn vorwärtstrieb, hinaus in die Lagune.
»Haltet sie«, schrie Enrico wütend. Er entriss einem der neben ihm stehenden Bewaffneten den Speer und schleuderte ihn gegen den Sàndolo, doch das Wurfgeschoss verfehlte das Ziel um mehrere Bootslängen.
»Bogenschützen! Sind hier keine Bogenschützen?«
Binnen
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