Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
weniger Augenblicke war der Kahn auf das Bacino di San Marco hinausgetrieben und wurde immer schneller. Girolamo ruderte wie von Sinnen, sein ganzer Oberkörper war in pumpender, rasender Bewegung, das Ruderblatt stach in so kurzen Abständen ins Wasser, dass das Auge ihm kaum folgen konnte.
»Ihr Tölpel, könnt Ihr nicht hören, was ich euch befehle? Nehmt eine Gondel und holt sie ein, bevor sie Segel setzen können!«
»Der Erste, der ihm gehorcht, hat meinen Dolch in der Kehle«, sagte Lorenzo. Er hatte sich durch die zurückweichende Menge gedrängt und blieb an der äußeren Kaimauer stehen, von wo aus er dem Sàndolo nachschauen konnte.
Die Wachleute gerieten bei seinen Worten in Bewegung. Mit Mordlust im Blick wandten sie sich dem Urheber des Blutbades zu.
Lorenzo starrte sie drohend an, jeder Herzschlag in seiner Brust ein weiterer Ruderschlag, der das Boot von der Küste wegbrachte. Noch eine kleine Weile, dachte er, während er langsam vor den heranrückenden Wachleuten zurückwich, bis er keinen Schritt mehr weitergehen konnte, weil er sonst ins Wasser gefallen wäre. Aus den Augenwinkeln sah er etwas Rotes aufblitzen. Drüben auf der Brücke stand inmitten der gaffenden Menge Rufio, die besorgte Frage in den Augen, in welche Situation sein Herr sich wohl jetzt wieder manövriert haben mochte. Er konnte eben erst eingetroffen sein, sonst hätte er längst ein Schwert in die Hand genommen und mitgekämpft.
Vorsorglich signalisierte Lorenzo dem Schwarzen mit seinen Blicken, dass er wusste, was er tat.
Jacopo Sagredo, der ebenfalls am Fuß der Brücke aufgetaucht war, schien es von allein zu wissen. Er hatte abwartend die Daumen in die Schlaufen seines Gürtels gehakt, die Augen unverwandt auf Lorenzo gerichtet.
Vermutlich war es Sagredos Verdienst, dass Girolamo freigekommen war. Oder hatte auch hier Pasquale seine pulvergeschwärzten Finger im Spiel gehabt? Wo war er überhaupt, der einbeinige Spiegelmacher? Hoffentlich hatte er sich aus dem Staub machen können, zusammen mit seinem verrückten Gefährten.
Die Männer des Wachtrupps heizten ihre eigene Angriffslust an, sie feuerten einander an, einen Ausfall zu wagen.
Sie hatten Angst, das war ihnen anzusehen. Ihr Widersacher hatte eine überlegene Streitmacht von sechs gut bewaffneten und gedrillten Soldaten gefällt. Sie lebten allesamt noch und hatten sich teils gehend, teils kriechend und einer von ihnen sogar schwimmend in Sicherheit gebracht, doch er hatte sie ohne fremde Hilfe außer Gefecht gesetzt und teilweise ernstlich verwundet.
Lorenzo erkannte, was in ihnen vorging, und er registrierte auch den Augenblick, in dem das Spiel ausgereizt war. Die Zeit war gekommen. Einer der Wachleute stürzte mit erhobenem Schwert auf ihn zu – und blieb im nächsten Moment verblüfft stehen, als Lorenzo seine Waffen auf den Boden schleuderte, direkt vor die Füße des heranstürmenden Gardisten.
Lorenzo hob lächelnd beide Hände, um zu demonstrieren, dass er sich seiner Festnahme nicht widersetzen würde. Der Wachmann war so erleichtert, dass er spontan Lorenzos Lächeln erwiderte. Auch die Anspannung der Übrigen löste sich fast augenblicklich, und der Hauch des Todes, der über der Szenerie gelegen hatte, wurde durch rechtschaffenen Ärger ersetzt. Zornige Ausrufe wurden laut, und Lorenzo machte sich auf einige Übergriffe gefasst. Vermutlich würde ihm Ähnliches widerfahren wie damals Enrico, mit dem die Wachleute bei seiner Verhaftung auch nicht gerade zimperlich umgegangen waren. Heute sprach kein Mensch mehr davon, im Gegenteil: Er spielte sich sogar als Befehlshaber der Palastgarde auf, und niemand schien daran Anstoß zu nehmen.
Ob sein aberwitziger Vorwurf zutraf? Konnte Sanchia den Zehnerrat Grimani getötet haben? Nein, beantwortete Lorenzo sich diese Frage sofort selbst, das musste sich auf Giulia bezogen haben. Sie verkehrte in gewissen Kreisen, zu denen auch Männer vom Stande Giorgio Grimanis regelmäßig Zutritt hatten. Kreise, in denen Lorenzo sich selbst hin und wieder aufgehalten hatte. Und in denen sich Enrico Grimani ohne jeden Zweifel tagtäglich bewegte.
Enrico ließ ein raues Lachen hören, als hätte er Lorenzos Gedanken gelesen.
»Du bist verrückt, wenn du glaubst, dass du damit durchkommst«, sagte er. Mit einer raschen Bewegung hob er sein Schwert und stach es Lorenzo hart in die Brust.
Ungläubig blickte Lorenzo an sich herab, auf den sich ausbreitenden Blutfleck. Um ihn herum wurden teils entsetzte, teils
Weitere Kostenlose Bücher