Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
verabschiedete sich von den Gästen. Draußen war es tatsächlich dunkel und so kalt, dass Sanchia es einen Augenblick lang bereute, das Haus verlassen zu müssen. Vielleicht wäre es wirklich ganz unterhaltsam geworden, eine Weile mit Giovanni und diesem jungen Bildhauer zu reden. Sie hatte schon von Michelangelo gehört; es hieß, dass nicht nur seine Plastiken, sondern auch seine Fresken von seltenem Genie zeugten.
Doch sie wusste, dass die heutige Abendgesellschaft nur am Anfang unterhaltsam gewesen wäre. Die Mädchen waren, wie Giulia, erfahrene Kurtisanen für die gehobenen Ansprüche adliger Herren. Das Essen war lediglich der Auftakt zu einer wüsten Feier, in der Art, wie sie früher von Annunziata und ihren Mitschwestern im Kloster zelebriert worden war. Eleonora würde, sobald die letzten Teller abgetragen wären, entweder an der Tür stehen und lauschen oder in ihrem Zimmer sitzen und die Hände auf die Ohren pressen, je nachdem, in welcher Stimmung sie gerade war. Sanchia selbst war an solchen Abenden froh, wenn sie außer Haus zu tun hatte, so wie heute.
Der Junge, der neben dem Eingang auf sie wartete, war mager und abgerissen. Er mochte etwa elf oder zwölf Jahre alt sein und unterschied sich kaum von den Gassenkindern, die jenseits des Arno in den Elendshütten groß wurden. Sein Vater hatte zwar Arbeit, und seine Mutter brachte täglich ein warmes Essen auf den Tisch, aber bei acht jüngeren Geschwistern – bald zehn, wenn die Geburt ohne Zwischenfälle verlief – war kaum daran zu denken, ihn richtig herauszufüttern. Während er vor Sanchia hertrottete, hatte sie ausreichend Gelegenheit, den Jungen zu betrachten. Er lief wie ein junger Stelzvogel, den Kopf ein wenig seitlich gedreht und das spitznasige Gesicht zu Boden gewandt. Kreuzte jemand ihren Weg oder kamen ihnen Passanten entgegen, wich er, ohne zu zögern, aus und machte Platz. Offenbar hatte er früh gelernt, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.
Sanchia folgte ihm und dachte flüchtig daran, wie wenig Freude das Leben für junge Menschen seines Schlages bereithielt. Sich satt zu essen und im Warmen zu schlafen war für einen Jungen wie ihn schon beinahe das Himmelreich. Während Fürstensöhne sich in Samt und Seide hüllten, sich Trinkgelagen und erotischen Orgien hingaben und bis zum Überdruss solche Zeitvertreibe wie Fischen und Jagen pflegten, würde dieser Junge trotz lebenslanger harter Arbeit kaum je in der Lage sein, sich der Jahreszeit gemäß zu kleiden oder so viel zu essen, dass es zum Sattsein reichte, geschweige denn für eine Familie, die er sicher eines Tages haben würde. Er war nicht sonderlich groß, und seine knochigen Handgelenke, die aus den Ärmeln seines zu weiten und häufig geflickten Hemdes hervorschauten, waren so kläglich dünn, dass die jahrelange Mangelernährung nicht zu übersehen war.
In Venedig hatte Sanchia unzählige solcher Kinder gesehen, im Spital sowie auch in allen Vierteln, in denen sie bisher Kranke betreut hatte. Anders als in Florenz wohnten dort die Armen mitten unter den Reichen. Nicht selten waren die prunkvollen Palazzi umrahmt von verfallenen Häusern, in denen die von Ratten und Flöhen geplagten Bewohner sich zu Dutzenden drängten. Die vornehmen Damen aus den reichen Familien der Nachbarschaft stiegen naserümpfend über den Kot der räudigen Hunde und die Kadaver von Mäusen und Ratten hinweg, bevor sie anmutig zu ihren bunt bemalten Gondeln schritten und sich von ihrem Diener durch den Canalezzo spazieren rudern ließen.
Es schien der Natur des Lebens zu entsprechen, dass Elend und Pracht so dicht nebeneinander existieren konnten. Ein Zufall oder das Schicksal entschieden jeweils, ob ein Kind ein Leben in Luxus und Überfluss führen durfte oder bis zum Tode zu einem Dasein in Armut verdammt war.
Obwohl niemand sich offen gegen diesen Zustand auflehnte, war Sanchia zutiefst davon überzeugt, dass die Aufteilung in Arm und Reich weder gottgewollt noch naturgegeben war, sondern einfach eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Sie hatte bereits früh gelernt, dass nur ein Weg aus der Armut führte, und dieser lag nicht im Glauben, sondern allein im Wissen begründet. Albiera hatte ihr in den wenigen Monaten, die sie ihre Lehrmeisterin gewesen war, stets aufs Neue eingeschärft, dass Bildung die einzige Waffe war, mit der ein armer Mensch sich den Weg nach oben ebnen konnte. Doch da Bildung wiederum ein Privileg war, das sich nur begüterte Mitglieder der Gesellschaft leisten
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