Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
die frühe Tageszeit ungewohnter Trubel herrschte. Aus der Küche waren Stimmen zu hören, eine davon die eines Mannes, die ihr vage bekannt vorkam. Die andere stammte von einem Kind, das dem Tonfall nach zu urteilen offensichtlich gerade eine Frage stellte.
Giulia kam aus der Küche gehastet und rannte beinahe in Sanchia hinein. Sie wirkte aufgelöst, jedoch auf eine geradezu euphorische Art. Ein Strahlen verklärte ihr Gesicht, und ihre Augen leuchteten, als hätte sie einen Blick ins Paradies getan.
»Milch«, sagte sie. »Ich brauche Milch. Er mag sie so gerne.«
Eleonora kam im Nachthemd die Treppe herunter, einen Wollschal über den Schultern und das Haar wirr vom Schlafen. »Was ist denn hier los? Wieso seid ihr alle schon auf?«
»Wo ist die Milch?«, herrschte Giulia sie an.
Eleonora zuckte die Achseln. »In irgendeiner Kuh vermutlich. Ich war noch nicht auf dem Markt. Es hat ja noch nicht mal zur Prim geläutet. Was erwartest du von mir? Dass ich auch noch die Nacht durchschufte?«
»Ich habe gestern gesehen, dass Milch in Mengen in der Speisekammer stand. Jetzt ist der Krug leer.«
»Musst du mich deshalb so angiften? Immerhin habe ich gestern die Kleinigkeit eines Abendessens für mehr als ein Dutzend Personen zubereitet.«
»Was hat das mit der Milch zu tun?«
Eleonora betrachtete sie griesgrämig. »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe daraus den Maronenpudding gekocht, von dem die Herren so hingerissen waren.« Sie neigte den Kopf. »Höre ich da ein Kind in der Küche reden? Brauchst du dafür die Milch? In dem Fall schlage ich vor, du bietest ersatzweise den Rest von dem Pudding an. Kinder lieben Pudding über alle Maßen.«
Giulia runzelte die Stirn. »War nicht auch Schnaps in dem Pudding?«
Eleonora gähnte. »Natürlich. Deswegen hatte er ja das besondere Etwas.« Sie zog den Wollschal fester um die Schultern und verschwand mit dem typischen Watschelgang der Schwangeren wieder nach oben. Sanchia legte ihren Umhang ab und nahm die vom Regen durchweichte Haube vom Kopf, unentschlossen, ob sie Eleonora nach oben in die gemeinsame Kammer folgen und sich dort einfach ins Bett fallen lassen oder eher dem Wunsch nachgeben sollte, rasch in der Küche nachzuschauen, wer die Besucher waren. Die Neugier siegte, folglich heftete sie sich an Giulias Fersen, als diese zurück in die Küche eilte.
Der Mann und der Knabe am Tisch waren ungefähr gleich groß, und Sanchia erkannte den rothaarigen Zwerg, schon bevor er ihr das Gesicht zuwandte. Es war Giustiniano, der Gefängniswärter.
»Guten Morgen, Monna Sanchia«, sagte er höflich.
»Guten Morgen«, erwiderte Sanchia verblüfft. »Was tut Ihr denn hier?«
»Frühstücken«, versetzte Giustiniano lakonisch. »Es war ein langer, beschwerlicher Weg von Venedig hierher. Er hätte leicht und geruhsam sein können, denn das Wetter war nicht zu kalt, und es gab immer ausreichend Essen und warme Quartiere. Aber wenn Ihr je versucht, wochenlang ein quengelndes, unsinnige Fragen stellendes, sich einnässendes Knäblein durch das halbe Land zu bringen, wisst Ihr, was ich meine.«
Giulia, die Sanchia den Blick auf den Jungen versperrte, protestierte. »Marcos Fragen sind niemals unsinnig, sondern für ein Kind seines Alters von außergewöhnlicher Klugheit. Und er nässt nur ein, wenn man ihm keine Gelegenheit gibt, sich zu erleichtern!«
Perplex trat Sanchia zum Tisch. »Du hast deinen Sohn herholen lassen!«
Giulia strahlte. Sie sank vor dem Kind auf die Knie und schloss es in die Arme. In ihren Augen standen Tränen des Glücks. »Natürlich. Wo sollte er sonst sein, wenn nicht bei seiner Mutter! Marco, sag Sanchia guten Morgen.«
»Guten Morgen, Monna Sanchia«, sagte der dunkelhaarige kleine Junge folgsam. An Giulia gewandt, setzte er flüsternd hinzu: »Ist sie ein Engel? So wie auf dem Bild, das bei uns zu Hause hängt?«
Sanchia starrte das Kind an. Übelkeit stieg in ihr hoch und schnürte ihr die Luft ab.
»Findest du mich schöner als sie?«, fragte Giulia kokett.
Der Kleine überlegte. »Nicht schöner. Anders.«
Giulia zuckte zusammen. »Was meinst du mit anders?«
»So wie Giustiniano.«
»Das ist nicht dein Ernst! Du scherzt mit deiner armen Mutter! Wie kannst du mich mit einem Zwerg wie ihm vergleichen, nur weil er rothaarig ist wie ich!«
»Der Zwerg hat Wochen seiner Zeit vertändelt, um Euren naseweisen Spross an Eure Mutterbrust zurückzulegen«, warf Giustiniano beleidigt ein.
»Schweig, du undankbarer Gnom! Ich habe
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