Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
aus, dass ein Neugeborenes genug war, aber ganz offensichtlich dachte er genau das.
Sanchia schlüpfte rasch hinaus, ließ die Tür aber angelehnt. Draußen regnete es immer noch. Sie schlug das Tuch vom Gesicht des Neugeborenen weg und betrachtete die verkniffenen, kaum ausgebildeten Gesichtszüge. Sie legte ihr Ohr an die Brust des Kindes und lauschte, doch wegen des trommelnden Regens konnte sie keinen Herzschlag wahrnehmen. Sie horchte angestrengter, und dann meinte sie, etwas zu hören. Ein sachtes Zucken, kaum mehr als ein Flattern, so rasch wie das Pochen des Regens auf dem Dach.
»Nun, sei’s drum«, murmelte sie. »Ob es zu deinem Glück gereicht und ob du deinen ersten Geburtstag erlebst, ob du je heiraten und selbst Kinder haben wirst, ob du irgendwann in deinem Leben auch nur eine Zeile wirst lesen können – das alles kann nur der liebe Gott dir beantworten. Aber eines wissen wir beide, du und ich: Du wirst jetzt atmen.«
Sie blickte sich verstohlen um. Bei dem, was sie vorhatte, musste niemand sie sehen. Auch das war eine der Vorsichtsmaßnahmen, die sie bei Albiera gelernt hatte. Zu schnell waren die Leute mit dem Vorwurf der Hexerei bei der Hand.
Sanchia entfernte mit dem gekrümmten Finger den Schleim aus dem Mund des Kindes, dann legte sie ihre geöffneten Lippen auf Mund und Nase des Neugeborenen und blies vorsichtig ihren Atem in die Lungen des winzigen Geschöpfs, langsam und stetig, bis sie spürte, wie sich der kleine Brustkorb hob.
Eines der Ärmchen zuckte hoch. Sanchia drehte das kleine Mädchen um, hob es an den Füßchen hoch und schlug mit der flachen Hand kurz, aber scharf auf das winzige Hinterteil. Ein schwaches, aber unverkennbar protestierendes Krähen belohnte ihre Mühe.
Sie hielt das Kind dicht vor ihr Gesicht und küsste die kleine Stirn. »Willkommen im Leben«, flüsterte sie.
Als sie das Haus mit dem schreienden Neugeborenen wieder betrat, begegnete ihr von allen Seiten ungläubiges Starren. Erregtes Geschnatter setzte ein, das Sanchia sofort im Keim erstickte, bevor solche Wendungen wie Wunder oder Teufelei laut werden konnten.
Ungerührt schaute sie in die Runde. »Es war nicht tot, es hat nur geschlafen. Der Regen hat es aufgeweckt.«
Sie blieb bis zum frühen Morgen bei der Mutter und den Neugeborenen, solange, bis sie sicher sein konnte, dass keine Nachblutungen zu befürchten waren. Alles Weitere lag in Gottes Hand – und natürlich darin, was die Menschen daraus machten.
Der Himmel war noch dunkel, als sie in Begleitung des schweigsamen Knaben den Heimweg antrat. Der Junge war wie sie selbst zu Tode erschöpft und trottete mit gesenktem Kopf halb vor, halb neben ihr, die Arme frierend vor der Brust verschränkt. Über Nacht musste die Familie zwei Esser mehr ernähren, und es war abzusehen, dass er in nicht allzu ferner Zukunft neben seinem Vater als Versorger seiner Geschwister unverzichtbar sein würde. Vielleicht würde das Geld noch reichen, ihn in eine Lehrstelle zu vermitteln, aber eher war anzunehmen, dass er sich als Tagelöhner würde verdingen müssen. Das schwere Seufzen, mit dem sein Vater Sanchia den Hebammenlohn ausgehändigt hatte, ließ darauf schließen, dass jeder Soldo davon ein schmerzliches Loch in die Haushaltskasse riss.
Über den Dächern der Stadt nahmen die Wolken aus dem Dunkel heraus Gestalt an, verwandelten sich in bauschige Gebilde, zuerst lavendelfarben, dann rot, bis ihre Ränder schließlich mit goldenem Glühen den nahenden Sonnenaufgang ankündigten. Vereinzelt ertönten Hahnenschreie, und je weiter sie vorankamen, desto mehr nahmen ringsum die Anzeichen morgendlicher Geschäftigkeit zu.
Vor der Baustelle des Palazzo Strozzi rüsteten bereits die ersten Arbeiter ihr Werkzeug, und auch in dem kleineren Stadthaus daneben regten sich in der Morgendämmerung die Frühaufsteher: Jemand stieß von innen die Fensterläden auf.
Beim Näherkommen sah Sanchia zu ihrer Überraschung, dass es Giulia war. Normalerweise tauchte sie nach einer durchfeierten Nacht selten vor dem Nachmittag auf. Möglicherweise hatte sie aber auch gar nicht geschlafen, denn im matten Morgenlicht war zu sehen, dass ihr Gesicht hellwach und konzentriert wirkte. Sie blickte auf und sah Sanchia herankommen. Mit einem flüchtigen Winken zog sie ihren Kopf aus dem Fensterausschnitt zurück und verschwand wieder im Inneren des Hauses.
Sanchia verabschiedete sich von dem Knaben und ging ins Haus. Bereits beim Betreten der Diele war zu hören, dass ein für
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