Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
ein Mann draußen vor der Tür an zu schimpfen, man solle endlich still sein, statt rechtschaffene Nachbarn um ihren Schlaf zu bringen.
Der dünne Schrei des Neugeborenen war unter all dem Radau kaum zu hören. Sanchia betrachtete das Kind kurz. Es war ziemlich klein, kaum zwei Hände voll Mensch, aber es atmete und schrie kräftig, und seine Gesichtsfarbe war rosig. Die winzigen Glieder waren ein wenig blau, doch das würde sich binnen einiger Minuten geben. Sie wartete, bis die Plazenta nachfolgte, dann durchtrennte sie rasch die Nabelschnur und band den Nabelstumpf ab. Der kleine Junge fuchtelte mit den Armen und kniff die Augen zusammen, ohne mit dem Schreien aufzuhören. Sanchia streichelte ihm über das nasse, mit Käseschmiere bedeckte Köpfchen, dann wickelte sie das kleine Wesen in eine bereitgelegte Decke und legte es in die Wiege, die neben dem Bett stand. »Ein kleiner Sohn, er ist wohlauf«, sagte sie leise zu der Frau.
Diese biss die Zähne zusammen und nickte, während sich der Schweiß auf ihrer Stirn sammelte. Es gab noch keinen Grund, erleichtert aufzuatmen. Die nächste Wehe baute sich auf, doch es tat sich nichts.
»Ich kann nicht mehr«, ächzte die Gebärende.
Sanchia, die dergleichen bei fast jeder Entbindung hörte, strich der Frau beruhigend über die Hände. »Atmet ruhig und verkrampft Euch nicht. Euer Körper wird den Rest schon erledigen.«
Sie versuchte, sich ihre Besorgnis nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Die Frau verlor mehr Blut als üblich. Bei der folgenden Wehe schoss es in einem Schwall zwischen den Beinen der Gebärenden hervor und durchnässte die Laken.
»Das Kind!« Die Gebärende hatte es selbst bemerkt und starrte entsetzt an sich herab. »Es verblutet!«
Sanchia schüttelte den Kopf. Nicht das Kind, die Mutter, wenn das Schicksal es heute schlecht mit ihr meinte. Manchmal gab es bei Zwillingsschwangerschaften nur eine Plazenta, manchmal zwei. Hier waren es zwei, und eine davon war noch im Körper, mit dem Kind über die Nabelschnur verbunden. Im Normalfall lösten sich diese leberähnlichen Gebilde leicht nach dem Ausstoßen des Kindes ab und glitten an einem Stück heraus. Hin und wieder kam es jedoch vor, dass sie unter der Geburt rissen und sich nur zum Teil ablösten. Diese Fälle waren von jeder Hebamme gefürchtet. Binnen weniger Augenblicke konnte eine Gebärende so viel Blut verlieren, dass niemand sie mehr retten konnte.
Die Frau keuchte und schrie auf, weil die nächste Wehe begann. Sie presste mit letzter Kraft, während Sanchia nicht mehr tun konnte, als dem Durchtritt des zweiten Kindes zuzuschauen. Das Dammgewebe der Gebärenden war an zwei Stellen leicht eingerissen, ein Tribut an den Umstand, dass die Geburt beschleunigt vonstatten gehen musste und jede unterstützende Massage das Risiko weiteren Blutverlustes noch gesteigert hätte.
Das Kind war blau und gab keinen Laut von sich. Sanchia legte es unbeachtet zur Seite und widmete sich der Frau. Sie betastete den Leib, der immer noch hart wie Stein war. Die Wehe war noch nicht vorbei, die Blutung unvermindert heftig.
»Presst weiter«, befahl sie hastig. »So stark Ihr könnt!«
Sanchia drückte beide Hände gegen den Bauch der Schwangeren und versuchte, mit Druck von außen nachzuhelfen. In einem weiteren Blutschwall kam die Plazenta schließlich heraus, gerissen, wie Sanchia es befürchtet hatte, aber sie schien insgesamt vollständig zu sein. Der Blutstrom wurde sofort schwächer. Es war vorbei. Die Frau lachte und weinte zugleich, erschöpft und dennoch hellwach.
Sanchia nabelte das zweite Kind ab.
»Was ist es?«
»Ein Mädchen«, sagte Sanchia. Es gab immer noch kein Lebenszeichen von sich.
»Es ist tot!« Die Frau brach in lautes Wehklagen aus.
»Sei froh«, meinte ihre Schwester mitleidlos. Sie stand im Türrahmen, eine Hand in die Hüfte gestemmt und in der anderen ein Stück Brot, an dem sie kaute. Zwei der kleineren Mädchen standen hinter ihr und lugten verschreckt ins Zimmer.
Sanchia wickelte das reglose Kind eilig in ein Tuch und schob sich an den Zuschauern vorbei in den Flur. Auf der Stiege nach oben hockten weitere Kinder, teils leise schwätzend, teils zu müde, um mehr zu tun, als mit herabgesunkenen Lidern Sanchias Weg zur Tür zu verfolgen.
»Bringt Ihr das Kind gleich zum Priester in die Kirche?«, fragte der Mann. Seine Miene drückte Trauer, aber auch eine Spur von Erleichterung aus. Anscheinend dachte er ähnlich pragmatisch wie seine Schwägerin. Er sprach nicht
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