Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
der Gebäude entlang des Canalezzo mit einer blendenden Gloriole überzog.
Die Stäbe, die hier und da wie lange starre Finger aus Fenstern und von den Dächern wuchsen und von denen Wäschestücke flatterten, bildeten in Sanchias Augen offenbar das erste alltägliche Detail, das ihr half, ihren vor Staunen aufgeklappten Mund endlich zu schließen und dann zu einer eher profanen Frage anzusetzen.
»Bitte, kann ich jetzt eine Orange bekommen?«
In unmittelbarer Nähe des Ponte di Rialto gelang es Piero, einen Anlegeplatz zu ergattern. Während Sanchia den Kopf verdrehte, um die hölzerne Konstruktion der steil ansteigenden Brücke zu bewundern, steuerte er den Sàndolo durch das Gewimmel der Gondeln dicht neben die Treppenstufen, die von der Wasserlinie zur Fondamenta hinaufführten.
»Schaut nur, man kann die Brücke in der Mitte öffnen«, rief Sanchia begeistert aus.
»Das nennt man Zugbrücke«, sagte Pasquale, allem Anschein nach stolz auf sein Wissen. »Man kann sie in der Mitte hochziehen, damit auch größere Schiffe durchfahren können.«
Doch Sanchia starrte bereits in eine andere Richtung. »Dort! Das Haus! Wie prächtig es bemalt ist! Sogar die Schornsteine!« Doch schon wanderten ihre Blicke weiter. In der von Säulen gestützten Loggia eines nahen Palazzo hatte sie eine elegant gekleidete Frau erspäht, die soeben mit gerafften Röcken und gestützt von einem livrierten Diener eine Gondel bestieg und dabei Plateauschuhe sehen ließ, deren Sohlen mehrere Handbreit dick waren.
»Pasquale, sieh nur! Hast du je so hohe Schuhe gesehen? Wozu sind die gedacht?«
Pasquale gab es auf. »Keine Ahnung, ehrlich nicht.«
»Aber sie müssen doch einen Sinn haben!«
»Zweifellos sind sie eigens für eitle Frauenzimmer entworfen worden«, sagte ein beleibter Obstverkäufer, der auf der Fondamenta stand und den Wortwechsel mit amüsierter Miene verfolgt hatte. »Aus diesem Grund dienen sie allein dem Zweck, dass die Damen sich schneller den Hals brechen. Man weiß ja, dass der ungehemmte weibliche Trieb, sich fortwährend herauszuputzen, zu nichts Gutem führt.«
Sanchia schaute ihn stirnrunzelnd an, und als sie merkte, dass er scherzte, brach sie in Kichern aus. Er lachte sie an und zwinkerte ihr zu.
In seinem Bauchladen bot er Orangen feil. Piero, der ihn herangewunken hatte, kaufte ihm einige der aromatisch duftenden Früchte ab.
»Wo soll’s denn hingehen?«, wollte der Händler wissen, während er Sanchia eine Orange hinstreckte.
»Zur Piazza San Marco«, sagte Sanchia. »Wir wollen uns da alles ansehen, und dann fahren wir weiter zu Vaters Auftraggeber.«
»Ich verstehe deine Begeisterung!« Augenzwinkernd wandte der Händler sich an Piero. »Ihr wollt Eurer Tochter etwas bieten, stimmt’s? Da habt Ihr Euch den richtigen Tag ausgesucht! Heute ist auf der Piazzetta so viel los wie seit langem nicht.«
Piero gab eine der Orangen an Pasquale weiter, der sie geschickt zu schälen begann.
»Ich will ebenfalls zum Markusplatz«, sagte der Händler. »Aber schaut Euch dieses Gewühl an!« Er wies auf das dichte Gedränge zu Füßen der Rialtobrücke. »Und es gibt so gut wie keine freie Gondel! Würdet Ihr wohl einen erschöpften alten Obsthändler den Rest des Weges auf Eurem Kahn mitnehmen? Ich zahle auch dafür.«
Pasquale warf Piero einen zweifelnden Blick zu, den dieser achselzuckend erwiderte.
Der Obsthändler zählte bestenfalls vierzig Jahre. Er war kräftig gebaut und machte auch sonst einen durchaus agilen Eindruck, doch bevor jemand Einwände gegen sein Ansinnen erheben konnte, hatte er bereits mit einem behänden Schritt das Boot bestiegen und sich mit einem geräuschvollen Plumpsen auf die Mittelbank fallen lassen. Mit einem Zipfel seines Leinenhemdes wischte er sich den Schweiß von der Stirn, während er den Gurt löste, der den Obstkorb vor seinem Bauch festhielt.
»Der Himmel weiß, wann es das letzte Mal in einem Oktober so heiß war«, meinte er stöhnend. »Die Sonne brennt heute herab, dass es einem förmlich das Hirn ausdörrt!« Er streckte einen Fuß aus dem Boot und stieß mit seinem Zòccolo gegen die nächste erreichbare Treppenstufe, sodass der Sàndolo Fahrt aufnahm, bevor jemand auf die Idee kommen könnte, ihn wieder an Land zu befördern.
»Es ist nicht heißer als in anderen Jahren«, meinte Piero, halb irritiert, halb verärgert.
»Mag sein, dass meine Leibesfülle mich die Hitze stärker wahrnehmen lässt«, räumte der Mann vergnügt ein. »Übrigens, mein Name
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