Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
fühlte sich, als hätte ihm jemand die Faust in den Magen gerammt. Ohne zu zögern, ließ er das Ruder los und tat einen Satz, um Sanchia zu erreichen, doch die Kiste stand dazwischen, und Pasquale versperrte ihm ebenfalls den Weg. Durch seine hastigen Bewegungen geriet der Sàndolo bedenklich ins Schwanken.
Drüben zwischen den Säulen drängten Comandatori die Zuschauer, die sich zu weit vorgewagt hatten, gewaltsam hinter die Absperrungen zurück. Mit aufgestellten Lanzen verliehen sie ihren Befehlen Nachdruck, während zwei weitere Bewaffnete in Stiefeln und Lederharnischen einen Mann nach vorn schleppten und dann mit ihm zwischen den Säulen verharrten. Ein Dritter packte den Wehrlosen beim Schopf und zwang ihn in die Knie. Als er nicht sofort niedersank, half einer der Bewaffneten mit einem Tritt in die Kniekehlen nach.
Pieros Blicke flogen zwischen Sanchias Gesicht und dem Geschehen auf der Piazzetta hin und her. Hilflos sah er die Erkenntnis in den Augen seiner Tochter dämmern und war doch außerstande, rechtzeitig zu ihr zu gelangen, um ihr den Anblick zu ersparen.
»Nein!«, schrie sie entsetzt, als der Scharfrichter das Beil hob.
Im selben Augenblick, als es in einem blitzenden Bogen niedersauste, packte der Obsthändler sie und barg ihr Gesicht an seiner Brust.
Piero ruderte eilig weiter, vorbei am Palazzo Ducale und dann die Riva degli Schiavoni entlang. Am nächsten freien Anlegeplatz drehte er das Boot längsseits zum Kai und ließ den Obsthändler aussteigen. Sein Groll auf den Dicken war einem Gefühl vager Dankbarkeit gewichen, das indessen nicht so weit reichte, ihn noch länger um sich haben zu wollen. Piero lehnte die Hand voll Soldi ab, die ihm Jacopo für die Mitnahme anbot, doch das halbe Dutzend Orangen, das der Obsthändler schweigend aus seinem Korb nahm und neben dem Mast ablegte, nahm er dankend an.
Sanchia hockte stumm und bleich neben der Kiste mit den Glasmustern, und Piero warf ihr ein beruhigendes Lächeln zu, obwohl ihm selbst der Schreck noch in den Knochen steckte. Jacopo nahm seinen Bauchladen und kletterte auf die Riva.
»Ich wünsche Euch ein langes Leben. Und der Kleinen noch viel Spaß in der großen Stadt.«
Als niemand auf diese launige Bemerkung reagierte, verzog er das Gesicht zu einem Ausdruck, der zwischen Bedauern und Belustigung schwankte.
»Es tut mir leid. Ich dachte, ihr wüsstet davon. Alle Welt wusste doch, dass ein Sodomit heute seinen Kopf verliert.«
Piero stieß mit einem knappen Abschiedsgruß das Boot von der Kaimauer weg. Er hatte keine Ahnung gehabt. Nicht, dass Murano so abseits allen Geschehens gewesen wäre. Wichtige Nachrichten verbreiteten sich dort fast genauso schnell wie in der übrigen Lagune. Er selbst war schuld, dass er kaum noch erfuhr, was in der Welt draußen vorging. Und Pasquale war im Begriff, zu einem ähnlichen Eigenbrötler zu werden wie sein Meister. Nicht selten verging eine ganze Woche, ohne dass sie beide überhaupt den Kopf aus dem Haus steckten.
Der Obsthändler mochte seine starken Schultern gepriesen haben, doch Piero spürte inzwischen jeden Knochen. Er war stark, aber stundenlanges Rudern war keine Arbeit, die er tagtäglich verrichtete. Immerhin hatte er den Trost, dass der Rückweg um einiges kürzer ausfallen würde, da nach dem vorangegangenen Fiasko weitere Besichtigungstouren nicht zur Debatte standen und sie daher den direkten Weg quer durch den Stadtteil Castello nehmen konnten.
Schwitzend und mit schmerzenden Muskeln passierte er San Zaccaria und lenkte schließlich den Sàndolo in den nächsten Kanal, wo sie nach kurzer Zeit ihr Ziel erreichten.
Die Villa der Familie Caloprini befand sich an einem wenig befahrenen Seitenkanal. Es war das letzte Gebäude in einer Reihe anderer, wenn auch schlichterer Wohnhäuser, die kürzlich bei einem Brand in diesem Sestiere den Flammen zum Opfer gefallen waren. Die Ca’ Caloprini , als einziges Haus der Reihe aus Stein erbaut, war diesem Schicksal entgangen, aber durch das Feuer so schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, dass der Eigentümer den Bau eines neuen Palazzo plante. Die Caloprini hatten einen Teil des zerstörten Areals erworben, sodass die neue Villa in unmittelbarer Nachbarschaft zur alten errichtet werden konnte.
Sanchia betrachtete die verkohlten Holzruinen, die, erst zum Teil abgetragen, aus dem trüben Wasser ragten. Kolonnen von Arbeitern waren damit beschäftigt, die Überreste verbrannter Pfähle zu heben und Schutt wegzuschaffen. Einige von
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