Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
neulich sein, die anderen waren alle schon fast tot gewesen, in jedem Fall aber viel zu senil, um an Lust auch nur noch denken zu können.
Rodolfo schenkte ihr ein anzügliches kleines Lächeln. »Ihr habt seine Tochter aufgehetzt, sie möge ihr Kleinkind in den Fertigkeiten der Hexerei unterweisen.« Ernster fuhr er fort: »Dann war da noch eine Familie, deren Neugeborenes tot zur Welt gekommen war. Man trug Euch auf, es zur Kirche zu bringen, doch Ihr hauchtet ihm heimlich Leben ein.«
»Also hat mich doch jemand dabei beobachtet«, murmelte sie.
Rodolfo lachte verunsichert. »Im Augenblick sind sie dabei, weitere Beweise zusammenzutragen. Rechnet damit, dass sie spätestens morgen hier auftauchen und Euch und Monna Eleonora verhaften.«
Sanchia war bereits auf dem Weg nach oben, um zu packen.
»Bekommt der aufmerksame Retter nicht wenigstens zur Belohnung einen winzigen Kuss?«, rief Rodolfo ihr nach.
»Ich könnte Euch küssen«, bot Marco ihm höflich an. »Aber nicht auf den Mund.«
Giulia rief mit schwacher Stimme nach Sanchia. »Was ist geschehen?«
»Man hat uns entdeckt. Sie bereiten eine Verhaftung vor.«
»Ich kann nicht mit euch kommen, ich bin zu krank.«
»Das hatte ich auch nicht erwartet«, sagte Sanchia. »Von dir weiß Ambrosio nichts, du hast dir hier ein neues Leben aufgebaut. Warum solltest du nochmals von vorne anfangen?«
Giulia schloss die Augen, und Sanchia begriff, was sie gesagt hatte. Für Giulia war jeder Gedanke an einen Neuanfang ohnehin absurd.
»Wo wollt ihr hin?«
Sanchia zuckte die Achseln. »Rom, Mailand … wer weiß.«
»Ihr könnt zurück.«
Sanchia glaubte zuerst, nicht richtig gehört zu haben, doch Giulia hatte die Augen wieder geöffnet, und ihr Blick war klar. Die Worte hingen zwischen ihnen wie Bleitropfen, zäh und dunkel.
»Man hat euch beide vom Vorwurf des Mordes und der Gotteslästerung freigesprochen. Eure Äbtissin und ein Freund von ihr haben alle Hebel in Bewegung gesetzt. Sie haben Zeugen aufgeboten, die jede Anklage entkräften und widerlegen konnten.«
»Sagredo«, murmelte Sanchia.
Giulia musterte sie. »Was?«
»Nichts. Sprich weiter.« Sanchia beugte sich angespannt vor.
»Ihr könnt jederzeit nach Venedig zurück«, wiederholte Giulia ungeduldig. »Das gilt übrigens auch für Girolamo, auch bei ihm wurde die Anklage fallen gelassen. Gegen euch drei liegt nichts vor. Ihr seid … frei.«
»Frei«, echote Sanchia. Sie dachte fieberhaft nach. Die Möglichkeiten, die sich ihr mit einem Mal boten, schienen so vielfältig wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie konnte Annunziata und Maddalena wiedersehen. Sie konnte nach Murano, das Grab ihrer Eltern besuchen. Und das von Lorenzo.
Plötzlich wurde sie von einer Sehnsucht übermannt, die ihr den Atem abschnürte. An seinem Grab zu stehen und zu beten, sich an ihre kurze gemeinsame Zeit zu erinnern …
»Was hast du?«, fragte Giulia. »Glaubst du mir nicht? Ich weiß es aus sicherer Quelle. Giustiniano hat alles aus nächster Nähe mitbekommen, er konnte in dem ganzen Chaos der Befreiung unbeobachtet flüchten und hinterher so tun, als wüsste er von nichts. Übrigens, falls es dich noch interessiert: Dieser einbeinige, einäugige Sprengmeister, Eleonoras Liebhaber – er ist ebenfalls aus dem Gefängnis freigekommen. Allerdings wurde er bestraft, denn er hat Staatseigentum zerstört und Gefangene befreit. Er wurde verbannt.« Giulia hielt inne. »Wieso schweigst du? Bist du mir böse, weil ich es euch nicht schon vor Monaten gesagt habe?«
Sanchia antwortete nicht, sie hing ihren Gedanken nach. Mit einem Mal war ihr in den Sinn gekommen, dass sie Geld hatte, viel Geld. Albiera hatte es ihr damals auf ihrem Totenbett eröffnet, es waren ihre letzten Worte gewesen. Und auch Annunziata hatte es irgendwann vor nicht allzu langer Zeit nochmals erwähnt. Es war das Gold in der Schatulle ihres Vaters, ihre Klostermitgift. Sie konnte für sich und Eleonora damit ein sorgenfreies Leben aufbauen. Ein Haus, Dienerschaft, immer satt zu essen … Sie würden nie wieder Hunger und Not leiden müssen. Albiera hatte verfügt, ihr das Gold auszuzahlen, sobald sie das Kloster verlassen wollte.
»Es ist nicht das Erbe deines Vaters, sondern das Erbe meiner Schwester«, hatte Annunziata erklärt. »Du warst für sie das Kind, das sie nie hatte.«
Das Kind, das sie nie hatte … Eine harte Faust bohrte sich in Sanchias Eingeweide.
»Woran denkst du?«, wollte Giulia wissen, jetzt sichtlich
Weitere Kostenlose Bücher