Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
vergangenen Jahr von einem gesunden Jungen entbunden, ihrem Erstgeborenen, der in derselben Woche wie Agostino auf die Welt gekommen war. Danach hatte die Frau im Januar eine Fehlgeburt gehabt, war aber inzwischen wieder schwanger.
Dass es nicht um ihren Jungen ging, wurde bei den nächsten Worten der Frau deutlich.
»Zwei der Stützpfeiler sind weggebrochen, das ganze Schiff ist umgekippt. Sie liegen zu dritt unter den Balken! Es hat ihm das Bein zerschmettert!«
Ihr Mann arbeitete im Arsenal, wie die meisten Leute in der Marinarezza sowie den angrenzenden Stadtgebieten. Es kam ständig vor, dass die Arbeiter sich bei Unfällen verletzten, aber in der Regel wurden dann die Ärzte in Anspruch genommen, die in der Werft praktizierten. Es gab deren einige, immerhin arbeiteten auf dem riesigen Gebiet des Arsenals mehr als fünfzehntausend Menschen.
»Ist niemand da, der ihm helfen kann?«
Die Frau schüttelte weinend den Kopf. »Er ist eingeklemmt und schreit vor Schmerzen. Der Arzt ist da, aber er hat gesagt, solange die Balken nicht weggeräumt sind, kann man ihn nicht behandeln. Bitte, Ihr müsst ihm etwas gegen die Schmerzen geben, ich weiß, dass Ihr es könnt!«
Sanchia brachte Agostino eilig in die Waschküche und drückte ihn der verschreckten Magd in die fleischigen Arme. Immaculatas Hände waren rot und nass von der Waschlauge, in der sie eben noch die Leibwäsche und die Windeln gekocht hatte, ihr Gesicht triefte von Schweiß. Der Kittel, den sie trug, war vom Halsansatz bis zum Saum pitschnass. Der Kleine wehrte sich sofort aus Leibeskräften und strebte mit ausgestreckten Ärmchen zurück zu Sanchia. Die trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, bevor die Magd ihr das Kind wieder überreichen konnte.
»Ich habe keine Zeit«, protestierte Immaculata nichtsdestotrotz. »Der Himmel weiß, dass ich diesen kleinen Nichtsnutz gern hab, und das, obwohl ich selber schon acht solcher Schreihälse gekriegt hab. Aber ich kann nicht alles machen! Wie soll ich meine Arbeit schaffen, wenn ich auf ihn aufpassen muss?« Sie schubste Herkules mit dem Fuß zur Seite. »Lässt du wohl die Seife in Ruhe, du kleine Missgeburt!«
»Du kannst die Arbeit doch einfach verschieben.«
Immaculata starrte sie perplex an. »Was denn? Wie denn? Das Huhn für morgen rupfen, die Stiege scheuern, die Töpfe von heute Mittag schrubben, den Herd auskehren – und dann auch noch das hier?« Sie setzte den Kleinen auf eine Hüfte und erfasste mit einer ausholenden Bewegung ihrer freien Hand bei dem Wort das die überquellenden Körbe und die dampfenden Kessel. »Wer will denn jeden Tag reines Leinen und frische Unterkleider? Und wer schreit am lautesten, wenn die Windeln noch schmutzig sind?«
Wie zum Beweis greinte Agostino so laut, dass Immaculata zusammenzuckte, und Herkules zögerte nicht, das Geschrei mit erneutem Kläffen zu untermalen.
Sanchia hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten bei dem Lärm. Sie wusste, dass Waschen eine tagesfüllende, Nerven zerschleißende Arbeit war, die zu allem Überfluss niemals endete, aber sie hatte keine Wahl. Eleonora war unterwegs, und Agostinos Amme Cornelia lag mit Migräne im Bett. Das kam regelmäßig einmal im Monat vor und setzte Cornelia derart außer Gefecht, dass sie ganz sicher nicht aufstehen würde, weder für Geld noch gute Worte.
Sanchia überlegte seit Wochen ernsthaft, noch jemanden als Hilfe einzustellen, doch schon die Magd, die Amme und der Mann, der gelegentlich zum Holzhacken und Ausbessern des Daches vorbeikam, zehrten bedenklich an ihren Goldvorräten. Sie hatte sich reich gewähnt, doch der Kauf des schlichten Häuschens am Rand des Arsenals und die nötige Ausstattung an Möbeln und übrigem Hausrat hatte mehr Dukaten verschlungen, als sie sich vorher hätte träumen lassen. Das, was sie bei ihrer Arbeit einnahm, reichte kaum, um sie mit Essen und dem Nötigsten an Kleidung zu versorgen. Sie schufteten alle miteinander den ganzen Tag, Eleonora eingeschlossen, aber das Geld wurde immer weniger statt mehr.
Sie fragte sich, wie Immaculata es mit ihrer vielköpfigen hungrigen Brut schaffte. Ihr Mann war vor drei Jahren gestorben, als sie gerade mit dem jüngsten Kind schwanger gewesen war. Das älteste Mädchen war vierzehn, es passte tagsüber auf die kleinen Geschwister auf, während die Mutter für den Lebensunterhalt schuften ging und abends noch den eigenen Haushalt versorgen durfte.
Sanchia hatte schon vorher die Erfahrung gemacht, dass das Leben
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