Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
nur noch, möglichst rasch aufzubrechen. Eleonora sprach sich entschieden dagegen aus, eine weitere Nacht in Florenz zu verbringen, sie war der festen Überzeugung, dass sie damit ein unnötiges Risiko eingingen.
»Lieber reise ich bei Nacht oder kampiere draußen in den Hügeln, als mich im Morgengrauen von den Bütteln abführen und in die Stinche werfen zu lassen.«
Sanchia musste ihr Recht geben, obwohl alles in ihr danach drängte, ihre Abreise hinauszuzögern, solange es ging. Sie fürchtete sich vor dem Moment des Abschieds.
Sanchia selbst brachte am Abend den Jungen ins Bett, während Eleonora unten an der Haustür wartete, die gepackten Truhen neben sich gestapelt und den Umhang bereits zugeschnürt. Girolamo war mit dem Fuhrwerk vorgefahren, das er ebenso wie das zottelige braune Zugpferd in aller Eile beschafft hatte, vermutlich von einem Teil der Goldstücke, die Giulia ihm vorher hatte zukommen lassen.
»Warum müsst ihr weg? Warum kann ich nicht mit? Bitte, ich will auch mit!« Marco hüpfte wie ein kleiner Derwisch auf dem Bett herum und dachte nicht daran, einzuschlafen.
Sanchia schob einen im Herd erhitzten, in Leinen gewickelten Backstein unter seine Decke. »Hier, gleich wird es schön warm, dann kannst du besser einschlafen.«
»Ich will nicht einschlafen. Ich will mit.«
Sie schlang die Arme um ihn. »Komm her.« Sie zog ihn an sich und setzte sich mit ihm aufs Bett. Tief einatmend drückte sie ihr Gesicht in seine weichen Locken.
»Nimmst du mich mit?«
»Es geht nicht, mein Kleiner.«
»Wohin gehst du denn?«
»Auf eine weite Reise.«
»Wann kommst du zurück?«
Nie, dachte sie. Sie konnte kaum atmen. Gott, lass es bitte nicht wahr sein!
»Wann?«, beharrte er.
»Irgendwann«, flüsterte sie. »Vielleicht im Sommer.«
»Ich will nicht, dass du weggehst«, flüsterte es feucht an ihrem Ohr. »Ich w – i – l – l es nicht. Er buchstabierte das Wort, wie er es oft tat, wenn ihm etwas besonders wichtig war. Er schluchzte, sein kleiner Körper bebte und zuckte in ihren Armen.
In ihr war ein Schmerz, der sie zu zerreißen drohte. »Wenn die Sonne scheint und es dabei regnet, entstehen manchmal bunte Streifen am Himmel, in allen Farben, die du kennst. Das nennt man einen Regenbogen. Er geht von einem Ende des Himmels bis zum anderen, er überspannt die ganze Welt. Wenn du einmal einen Regenbogen siehst, stell dir vor, du kannst hinübergehen, ganz weit hinaus, und dann schaust du hinab und siehst mich. Denk an mich, wenn du einen Regenbogen siehst.«
»Kommst du zurück, wenn ich den Regenbogen sehe?«
»Ja«, flüsterte sie. Es brachte sie fast um, ihn belügen zu müssen, aber sie konnte nicht anders. Und wer wusste denn schon, ob es nicht doch die Wahrheit war. Manchmal ließ Gott Dinge geschehen, die so wundersam waren wie Sonne und Regen gleichzeitig, und er malte Farben an den Himmel, über die vielleicht ein kleines Kind von einem Horizont zum anderen wandern konnte.
»Gut«, weinte er. »Ich warte auf den Regenbogen.«
Sie presste ihn an sich und küsste ihn ein letztes Mal, dann verließ sie die Kammer und anschließend das Haus. Schweigend brachten Eleonora und sie mit Girolamos Hilfe die Truhen zum Fuhrwerk und stiegen auf die Sitzbank. Während sich das Gefährt rumpelnd in Bewegung setzte und über das Pflaster rollte, schaute sie hoch zum Fenster seiner Kammer.
Er stand dort, das konnte sie sehen, beide Hände gegen die bleigefassten Butzenscheiben gelegt, das kleine Gesicht dazwischen. Er musste auf dem Schemel stehen, weil er sonst nicht so hoch hinaufgereicht hätte. Sie hatte keine Ahnung, ob er sie durch das trübe grünliche Glas überhaupt sehen konnte. Wahrscheinlich nur als verwischten Umriss, verschwommen und so weit entfernt, dass sie schon fast der Erinnerung ähnelte, die sie bald nur noch für ihn sein würde.
Leb wohl, Sohn meiner Seele, dachte sie. Schau manchmal zum Himmel, so wie ich es auch tun werde, wenn sich Sonne und Regen begegnen. Vielleicht finden wir uns dann wieder, eines Tages in unseren Träumen, hoch oben auf dem Regenbogen.
»Monna Sanchia, kommt rasch! Er leidet entsetzlich!«
Herkules rannte kläffend von einer Ecke des Raums in die andere, und Agostino kreischte los, als er die schreiende Frau scheinbar direkt auf sich losstürmen sah. Hilfe suchend reckte er die Ärmchen an Sanchia hoch, die ihn aufhob und beruhigend hin und her wiegte. Im ersten Moment dachte sie, es ginge um das Kind – sie hatte die Frau im
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