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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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einen Blick mit Simon und wusste, dass er dasselbe dachte wie sie. Dieser feiner Herr hatte das Mädchen mitnichten aus Nächstenliebe hergebracht, sondern weil es unbeteiligte Zeugen gab, die ihn mit der Kleinen gesehen hatten. Vermutlich hätte er sie anderenfalls bedenkenlos im Kanal versenkt.
    »Was für eine Feier war das?«, fragte Simon nüchtern.
    »Ich denke nicht, dass Euch das etwas angeht.« Der Patrizier musterte Simons gelbe Armbinde und hakte angelegentlich seine Daumen in die schwere Amtskette auf seiner Brust. Deutlicher hätte er den Standesunterschied nicht hervorheben können.
    »Ich denke doch. Es gibt bestimmte Vorschriften, die ich in solchen Fällen einzuhalten habe. Sanchia, bitte.« Simon wies mit dem Kinn auf das Mädchen, während er den Fremden nicht aus den Augen ließ.
    Sanchia fühlte den Puls des Mädchens. Er schlug kräftig und ruhig. Sie atmete regelmäßig, und als Sanchia sie berührte, öffnete sie vorsichtig ein Auge. Das andere war vollständig zugeschwollen. Sie war bei klarem Bewusstsein.
    »Du bist in Sicherheit«, flüsterte Sanchia. »Ich muss dich jetzt anfassen, um dich zu untersuchen. Bitte wehr dich nicht. Ich versuche, dir nicht wehzutun, und es ist in wenigen Augenblicken vorbei, das verspreche ich dir.«
    Das Mädchen gab ein Stöhnen von sich, und ihr halb geöffnetes Auge schielte zur Tür.
    Simon hatte es wahrgenommen und fasste den Mann beim Arm. »Kommt mit in die Halle, dort können wir reden.«
    »Nehmt Eure schmutzigen Judenfinger von mir«, herrschte der Patrizier ihn an. Mit vorgerecktem Kinn folgte er Simon in die Halle, wo er nach etwa zehn Schritten wütend gestikulierend stehen blieb. Sanchia schloss die Tür.
    Sie untersuchte das Mädchen und gab sich Mühe, die Kleine dabei so wenig wie möglich zu berühren. Es war nur zu deutlich, was letzte Nacht geschehen war. Die Prügel waren nur ein Teil der Misshandlungen, die ihr widerfahren waren.
    Zwei gebrochene Rippen, ein gebrochener Unterarm, zahlreiche Blutergüsse, ein weiterer ausgeschlagener Zahn im Unterkiefer, ausgerissene Haare am Hinterkopf, ein hässlicher langer Schnitt am Rücken, aus dem immer noch Blut quoll.
    Und dann natürlich die Verletzungen an den Genitalien. Jemand hatte Gefallen daran gefunden, sie so zu missbrauchen, dass ihr Unterleib nur noch eine einzige zerrissene Masse war, blutig, grotesk angeschwollen, von Exkrementen und getrocknetem Samen befleckt.
    »Wie heißt du?«
    Das Mädchen sagte etwas, aber Sanchia verstand sie nicht und wiederholte die Frage.
    »Andriana«, würgte das Mädchen durch ihre zerschlagenen Kiefer.
    »Hast du Eltern, eine Familie?«
    Das Mädchen schüttelte den Kopf.
    »Andriana, arbeitest du in einem bestimmten Haus oder auf der Straße?«
    »Straße«, nuschelte die Kleine. »Aber … das … noch nie so schlimm.«
    Sanchia nahm die Hand des Mädchens und drückte sie vorsichtig. »Kennst du den Namen der Männer, die dir das angetan haben?«
    Ein erneutes Kopfschütteln, dann weiteres, kaum verständliches Genuschel. »Masken. Keine Namen. Alle mit Masken.«
    »Ich wasche dich jetzt, Andriana«, sagte Sanchia ruhig. »Danach wird alles wieder gut. Es wird eine Weile dauern, aber es wird wieder gut.«
    Wenigstens äußerlich, dachte Sanchia. Schweigend kümmerte sie sich um die Kleine, die ihre Bemühungen wimmernd und verkrampft vor Schmerzen über sich ergehen ließ.
    Als Sanchia anschließend vor die Tür trat, war der Patrizier gegangen.
    Simons sonst so freundliches Gesicht war starr vor Wut. »Er hat mir nicht seinen Namen sagen wollen! Er ist einfach davonmarschiert! Er sagte, falls ich es noch einmal wagen sollte, ihn mit meinen schmierigen Judenfingern zu berühren, würde er mich abstechen wie einen tollen Hund. Das waren seine Worte, und ich habe sie ihm geglaubt.«
    Ihm war anzumerken, wie verletzt er war. Die meiste Zeit über konnte er damit umgehen, von manchen Venezianern mit Verachtung behandelt zu werden. Seine Patienten verehrten ihn wie einen Heiligen, und er war weit davon entfernt, unter mangelndem Selbstwertgefühl zu leiden. Er musste auch nicht wie seine Glaubensgenossen den demütigenden gelben Hut tragen, der seit diesem Jahr vorgeschrieben war. Für jüdische Ärzte war als Erkennungsmerkmal weiterhin die gelbe Armbinde ausreichend. Simon war in seiner Lebensart – anders als die Chassidim oder die im Zuge der Reconquista aus Spanien und Portugal vertriebenen und hier ansässig gewordenen Sephardim  – vorwiegend

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