Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
weltlich eingestellt. Er achtete zwar den Sabbat, aß koscher und betete mit seinem Rabbi, doch er trug keine Schläfenlocken und vergaß oft die Kippa. Dennoch waren auch an ihm die Repressalien, denen die Juden in Venedig zunehmend ausgesetzt waren, nicht spurlos vorübergegangen.
»Ich hätte die Wache rufen sollen«, sagte er bitter. »Aber bevor die Büttel auf die Hilferufe eines Juden reagieren, wechselt die Ebbe zweimal mit der Flut.«
»Nicht nötig, ich kenne ihn«, sagte Sanchia mit mehr Gelassenheit, als sie empfand. »Sein Name ist Alfonso Corner. Schwerreiche Familie, und er wird alles erben. Er ist ein guter Freund von Enrico Grimani, dem Zehnerrat. Die Feier, von der er gesprochen hat … Es ist anzunehmen, dass Enrico mit von der Partie war. Diese Art von Vergnügen ist typisch für ihn.« Ihr angewiderter Blick streifte die Tür, hinter der das Mädchen lag.
Simon musterte sie überrascht. »Woher weißt du das?«
»Man hört so dies und das.« Das war natürlich nur die halbe Wahrheit, doch sie hatte Giulia beim Grab ihrer Eltern schwören müssen, niemals zu offenbaren, von wem sie ihre Informationen erhalten hatte.
»Dieser Alfonso Corner – er scheint dich nicht erkannt zu haben.«
»Wir sind uns nur einmal begegnet, und das ist ein halbes Dutzend Jahre her.« Sie erinnerte sich und lächelte schief. »Damals war er vollauf damit beschäftigt, mit seinen angeberischen Kuhmaul-Schuhen nicht auf dem Eis auszurutschen.«
Simon musterte sie ernst. »Muss ich ihn melden?« Seinem Gesicht war die Hoffnung anzusehen, sie möge seine Frage bejahen.
Sanchia nickte langsam. Seit dem letzten März gab es eine ärztliche Meldepflicht für alle Fälle von Sodomie. Im Klartext bedeutete es, dass jede Form von Analverkehr, die bei einer ärztlichen Untersuchung zutage trat, bei den dafür zuständigen Provveditori zur Anzeige gebracht werden musste. Dabei ging es weniger um die Frage nach einem Missbrauch, sondern in erster Linie um die Perversion an sich. In Regierungskreisen hatte sich die Sorge breit gemacht, dass die widernatürliche Unzucht den gottgewollten normalen Verkehr verdrängen könne, und dem galt es entgegenzuwirken. Wäre das Mädchen lediglich auf herkömmliche Weise vergewaltigt worden, hätte das niemanden interessiert, zumal sie eine Kinderprostituierte war, von denen es in der Stadt nur so wimmelte.
Die amtliche Erfassung der Sodomie – meist an Knaben und jungen Mädchen – bedeutete für die Ärzte gleichwohl eine willkommene Möglichkeit, das rücksichtslose Treiben gewisser Männer aus der Oberschicht anzuprangern, was wiederum die Behörden aufgrund der Gesetzeslage dazu zwang, ungewohnte Härte an den Tag zu legen, wenn solche Fälle aufgedeckt wurden. Meist waren es denn auch Vergewaltiger, die nach solchen Meldungen zur Rechenschaft gezogen wurden, und die Strafen waren hart, auch wenn die Täter hochgestellten Familien entstammten. Doch das Gesetz hatte es schwer gegen Männer, die bei ihren Verbrechen Masken trugen.
Nach der Begegnung mit Alfonso Corner glaubte sie ersticken zu müssen, wenn sie nicht ins Freie kam. Ohne Erklärung verließ sie das Spital. Simon würde es ihr nicht übel nehmen, er war daran gewöhnt, dass sie kam und ging, wie es ihr passte.
Wie von allein wählten ihre Füße den Weg zur nahe gelegenen Kirche von San Lorenzo. Die Kapelle war menschenleer, bis auf Pater Alvise, der vor der Tür zur Sakristei stand und sich mit einem Putzlappen an dem Kreuz zu schaffen machte, das sonst immer hinter dem Altar hing. Als er Sanchia näher kommen sah, stopfte er den Lappen eilig in die Tasche seiner Soutane.
Verlegen umklammerte er den Heiland, dessen obere Körperhälfte sich merkwürdig von der unteren abhob. Sanchia unterdrückte ein Lächeln, als sie den Grund dafür erkannte. Der Pater hatte die bronzene Christusfigur allem Anschein nach poliert. Bis zum Nabel war er fertig, weiter unten war das Metall noch stumpf.
Pater Alvise räusperte sich. »Es gibt immer etwas zu tun in so einer großen Kirche.«
Er spürte ihre Belustigung und wurde rot. Sein nächstes Räuspern klang wie unterdrückter Kanonendonner. »Ich weiß, dass sonst immer die Nonnen die Kirche putzen, aber ich kann ihnen unmöglich unseren Christus zum Reinigen in die Hände geben.« Er hielt inne und verbesserte sich. »Nicht, dass sie ihn nicht aus vollem Herzen lieben und verehren. Sie würden ihn sicherlich auch herrlich blank putzen, viel blanker, als meine alten
Weitere Kostenlose Bücher