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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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kannte.
    »Nächstes Jahr werde ich sechzig«, sagte der Schwarze sanft.
    Lorenzo betrachtete ihn verblüfft. »So alt bist du noch nicht! Das kann nicht stimmen!«
    »Nun, so ist es aber. Als dein Großvater mich von dem portugiesischen Sklavenhändler kaufte, zählte ich zehn Sommer. In jenem Jahr starb ein Papst, Eugen IV. Ich habe mir die Jahreszahl gemerkt.«
    Lorenzo dachte kurz nach, dann nickte er. »Du hast Recht. Das war im Jahr 1447. Wenn du damals zehn warst, dann wirst du im kommenden Jahr tatsächlich sechzig Jahre alt.« Er konnte es immer noch kaum glauben. Sein Vater und sein Onkel waren beide sogar einige Jahre jünger als Rufio, doch im Vergleich zu ihnen wirkte er so zeitlos jugendlich wie eine Statue von Verrocchio.
    Lorenzo beendete die Taubenfütterung und ging zur Leiter.
    »Ich bleibe noch eine Weile hier oben«, sagte Rufio, die Füße immer noch baumeln lassend. Er wirkte ein wenig verloren, wie er dort saß, den Blick in die Ferne gerichtet.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Lorenzo, einen Fuß bereits auf der Leiter.
    Rufio nickte, ohne sich zu ihm umzuwenden.
    Lorenzo stieg ins Dachgeschoss hinab und erschrak, als er im Dämmerlicht des Flures eine geisterblasse Gestalt vor der Kammer seines Großvaters stehen sah.
    Beim Näherkommen erkannte er Caterina. Sie trug ein zartgelbes, mit weißer Spitze unterlegtes Nachmittagskleid und über dem Haar eine weiße Mantille, die Francesco ihr von einer seiner letzten Reisen mitgebracht hatte. Im Halbschatten des Gangs, der vom Tageslicht, das durch die Dachluke einfiel, nur dürftig erhellt wurde, wirkte seine Mutter rührend mädchenhaft und zart.
    »Warst du bei den Tauben?«, flüsterte sie atemlos.
    Er nickte. »Und du? Was machst du hier oben?«
    Sie wies mit dem Kopf auf die Kammer des Alten. »Mir war so, als hätte ich ihn schreien hören.«
    Er wusste, dass sie hin und wieder nach ihrem Schwiegervater schaute, doch sie half dem alten Mann nicht bei seinen täglichen Bedürfnissen. Einmal, vor etwa einem halben Jahr, hatte Lorenzo sie dabei ertappt, wie sie in der offenen Tür stand und mit morbider Faszination zum Bett starrte, in einer Mischung aus Ekel, Furcht und Hass – und dem unstillbaren Drang, den gelähmten Greis zu beobachten. Als sie Lorenzo wahrgenommen hatte, war sie sofort und ohne ein Wort davongeeilt.
    »Rufio kümmert sich um ihn, wenn er etwas braucht. Er ist noch oben auf dem Dach.«
    Sie nickte flüchtig und mit gesenkten Lidern. »Er ist böse«, flüsterte sie. »Nur zu dir war er immer gut.«
    Lorenzo musterte sie verständnislos, doch bevor er fragen konnte, was sie meinte, war sie bereits über die Treppe nach unten verschwunden.
    »Herr, wir danken dir für diese Mahlzeit, Amen.« Pasquale beendete das Tischgebet, so wie er es begonnen hatte, desinteressiert und ohne besondere Betonung. Die vier Männer und die beiden Frauen, die mit ihm am Tisch saßen, streckten wie auf Kommando alle gleichzeitig die Hände aus und langten zu. Schmatzend und schlürfend schlangen sie Löffel für Löffel den Brei aus Hirse, Rüben und zerkleinerten Fleischstücken hinunter und sprachen dabei kein einziges Wort.
    Früher hatte jeder einen eigenen Teller benutzt, und es hatte beim Essen auch eine Art Konversation gegeben, aber während seiner Abwesenheit hatte das Gesinde sich eher schlichte Tischsitten angewöhnt. Der Glasmacher, der in den letzten beiden Jahren der Werkstatt als Meister vorgestanden hatte, war anscheinend kein Freund vornehmer Manieren gewesen. Der Küchenmagd war es recht so, sie konnte häufiger Eintopf kochen und hatte hinterher weniger zu spülen, und solange alle aus einem Topf aßen, fiel es nicht auf, wenn einer gefräßiger war als der andere. Es wurde einfach gegessen, bis der Topf leer war.
    Pasquale hatte keine Anstalten gemacht, das wieder zu ändern. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er auch vor den Mahlzeiten nicht unbedingt beten müssen, doch vermutlich hätte dann niemand mit Appetit essen können. Beim ersten gemeinsamen Mahl nach seiner Rückkehr hatten ihn alle so lange angestarrt, bis er begriffen hatte, was sie von ihm erwarteten. Er war der Haushaltsvorstand, und der hatte nun einmal das Tischgebet zu sprechen.
    Für die Männer und die Mägde war sein Auftauchen eine Art Wunder, mindestens vergleichbar mit Christus’ Wiederauferstehung. Sie konnten auch nach drei Wochen immer noch nicht fassen, dass er wieder da war.
    Der Fiolero, der bis vor kurzem hier noch die Leitung

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