Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
furzte, wenn irgend möglich, noch lauter und stinkender als früher. Die Hausmagd behauptete, er hätte es sich – ebenso wie das Zwiebelfressen – unter dem neuen Herrn völlig abgewöhnt, weil dieser ihn sonst entlassen hätte, und es sei ihr ein Rätsel, wieso er auf einmal wieder damit angefangen hatte.
Pasquale arbeitete eine Weile mit den Männern an den Öfen und Werktischen, doch er fand dabei nicht den Frieden, den er sich erhofft hatte.
»Du bist schon wieder unruhiger als ein Sack voller Hummeln«, sagte Vittore.
Pasquale brummte eine unverständliche Erwiderung. Er rieb sich das vernarbte Auge unter der Schutzklappe und legte die Glaspfeife zur Seite. Ohne ein weiteres Wort ging er nach oben in die Kammer mit den Spiegeln, wo er das tat, was er immer in der letzten Zeit gemacht hatte, wenn er nicht weiterwusste. Er lief herum wie der Zeiger einer Sonnenuhr, nur viel schneller, einen Tag in wenigen Atemzügen, eine Stunde mit einem Schritt. Und dennoch dehnten sich die Augenblicke, als wollten sie nie enden. Sie verwandelten sich in eine beklemmende Leere, die überall war, hinter den Wänden, über dem Kanal, jenseits der Lagune.
Sie war irgendwo da draußen und hielt sein Herz in ihren Händen, aber zwischen ihnen standen Entfernungen, die so endlos waren wie der Weg von der Erde zum Himmel. Er lief weiter und weiter, sein Bein machte auf den Dielen Tok-tok , Tok-tok , fast so laut wie sein Herz, das weit draußen war und doch in seiner Brust so wehtat. Er hätte das Klopfen gern mit Schreien übertönt, lange und so laut, dass davon der Schmerz vielleicht leiser wurde. Oder eine gewaltige Ladung Schwarzpulver entzündet, von solcher Sprengkraft, dass die ganze Welt sich in Splitter auflöste. Und doch tat er nichts weiter als herumzulaufen wie ein eingesperrtes Tier, immer im Kreis, vorbei an den gewölbten, verzerrten Spiegeln, die im Grunde nichts weiter waren als Fenster, durch die er im Vorübergehen einen Blick in die tote Finsternis seiner Seele werfen konnte.
Die Glocken von San Pietro Martire läuteten zur Nachmittagsstunde, als Girolamo den Sàndolo in den Rio dei Vetrai steuerte. Sanchia stand aufrecht am Mast, die Augen gegen die Sonne zusammengekniffen. Ihr war übel nach der langen Bootsfahrt, ohne dass sie hätte sagen können, ob es eine Nachwirkung der Krankheit oder ob es Furcht war, die ihr den Magen zusammenkrampfte. Sie sehnte sich danach, Pasquale nach all der Zeit endlich wiederzusehen, doch noch größer war die Angst, ihn verletzen zu müssen.
Vor dem Tor schleppte eine Magd einen Bottich voller Unrat zum Steg und schüttete ihn aus. Sie ging zurück ins Haus, ohne dem Boot, das sich der Anlegestelle näherte, auch nur einen Blick zu gönnen. Sanchia erkannte sie sofort, es war dieselbe Magd, die schon während ihrer Kindheit ihren Eltern gedient hatte. Vermutlich konnte sie auf größere Entfernungen nicht mehr viel erkennen; sie hatte damals schon schlechte Augen gehabt.
Als Girolamo den Kahn vertäute, lugte ein weiteres bekanntes Gesicht aus dem Tor. Es war Nicolò, den Sanchia schon als Lehrbub gekannt hatte.
»Du bist aber groß geworden«, entfuhr es ihr.
Er zuckte erschrocken zusammen und starrte sie an, als sei sie plötzlich den Fluten des Kanals entstiegen. Hastig zog er sich ins Innere des Hauses zurück. An dem Geschrei, das kurz darauf aus der Werkstatt nach draußen schallte, war unschwer festzustellen, dass er lautstark ihre Ankunft ankündigte. Im nächsten Augenblick kam die Magd wieder ins Freie geschossen, den schmierigen Bottich noch in der Hand. Sie glotzte Sanchia an und brach in lautes Geheul aus.
»Kindchen!«, schrie sie. »Das Kindchen ist wieder da!«
Vittore kam aus dem Tor gewankt. Er war alt geworden, ein gebeugter Greis mit schwärenden nackten Unterschenkeln, zahnlosen Kiefern und entzündeten Ekzemen im Gesicht. Als er Sanchia sah, hielt er sich am Seitenpfosten des Hallentors fest und schlug mit der freien Hand ein Kreuzzeichen nach dem anderen. »Ave Maria, gratia plena«, stammelte er, »Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui, Jesus. Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae!« Er fing an zu weinen, als Sanchia auf den Steg kletterte und auf ihn zukam.
»Vittore. Es ist schön, dich wiederzusehen.«
Er verbarg sein Gesicht. »Du weißt ja nicht … Du weißt ja nicht …«
»Doch«, sagte sie leise. »Ich weiß. Es ist lange her, nicht
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