Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
nicht so, denn die weißen Tauben waren von allen die wichtigsten und wertvollsten, und zugleich waren sie diejenigen, die ihm persönlich am meisten bedeuteten. Natürlich waren sie nicht mit Francesco über den Atlantik ins Ungewisse gesegelt. Mit ihm reisten die rund zwei Dutzend gewöhnlichen Brieftauben, die ihn auch sonst stets begleiteten. Sie waren nicht geübt darin, beide Routen zu beherrschen, sie fanden nur den Heimweg nach Venedig.
Lorenzo nahm die weißen Tauben nach wie vor auf seinen eigenen Fahrten mit, jedenfalls dann, wenn er mit dem Schiff reiste. Weitere Voraussetzung war, dass Rufio zu Hause blieb und dafür sorgte, dass sie wieder aufsteigen konnten, um zu Lorenzo zurückzukehren, gleichgültig, in welchem Land sich ihr Schlag gerade befand. In den letzten beiden Jahren war der Sklave nur noch selten mit ihm gereist, er behauptete, er werde langsam zu alt für die Unwegsamkeiten und Gefahren in der Fremde. Um die Tauben kümmerte er sich jedoch zu allen Zeiten zuverlässig und mit Freude. Sie sind unser weißes Herz, sagte er einmal zu Lorenzo. Sie halten die Liebe in uns lebendig.
Manchmal schien es Lorenzo, als sei Rufio von einer wachsenden Schwermut durchdrungen, ohne dass die Gründe dafür fassbar waren. Lorenzo hatte ihn gefragt, ob er an Heimweh litt, doch Rufio hatte nur lächelnd den Kopf geschüttelt. Später am Abend hatte Lorenzo ihn vor seltsamen, aus Stroh gebastelten Figuren gutturale Worte in einer fremden Sprache murmeln hören.
»Hast du wieder Nachricht?«, fragte Rufio grinsend. Er saß am Rand der Altana und ließ die nackten Füße über dem Dach baumeln. Lorenzo fühlte sich bei diesem Anblick und bei Rufios Frage an eine Zeit erinnert, die schon viel zu lange her war, als dass es ihm noch wehtun dürfte, daran zu denken. Doch im Zusammenhang mit Sanchia war die Vergangenheit nicht das, was sie sonst für ihn bedeutete. Alles war jederzeit präsent, nichts wirklich vorbei.
Seit kurzem war die Vergangenheit noch mehr in den Vordergrund gerückt, in Form eines merkwürdigen Phänomens: Die weißen Tauben flogen wieder zum Kloster, obwohl Lorenzo ihren alten Schlag schon vor langer Zeit dort hatte abholen lassen. Vor ein paar Wochen hatte die erste kleine Briefrolle am Bein des Täuberichs gesteckt. Rufio hatte sie in Empfang genommen, und im Nachhinein war Lorenzo dankbar dafür, dass nicht er selbst sie entdeckt hatte – er wäre vermutlich bei dem Anblick vor Schreck vom Dach gefallen.
»Ja, sie hat wieder geschrieben«, beantwortete Lorenzo schmunzelnd Rufios Frage.
»Scheint so, als würdest du dir im Kloster eine neue Geliebte heranziehen.«
Darauf gab Lorenzo keine Antwort, denn er fasste es genauso auf, wie es gemeint war – als Scherz. Er wusste nicht einmal, wer der unsichtbare Briefeschreiber war, es hätte jede einzelne Nonne aus dem Kloster sein können. Es herauszufinden, war ihm die Mühe nicht wert, denn seit damals gab es nichts mehr, was ihn dorthin zog.
Die Botschaften, die sie austauschten, waren zudem denkbar kurz und eher technischer Natur: Sie bestanden lediglich in der Angabe der genauen Auflassungszeiten.
»Nimmst du die Tauben auf deine nächste Reise mit?«, fragte Rufio. »Was soll ich tun, wenn sie dann bei ihrer Rückkehr nicht hierher fliegen, sondern ins Kloster?« Er bleckte die Zähne zu einem Lachen. »Stell dir vor, wie die Nonnen kreischen, wenn ich Einlass begehre!« Er hob die Arme. »Huh, hier kommt der schwarze Mann!«
Lorenzo grinste. »Das nächste Mal bleiben sie hier. Ich reise zu Land.«
»Wohin geht es diesmal?«
»Nach Rom.«
»Ah, Rom«, sagte Rufio sehnsüchtig.
»Möchtest du mitkommen?«
Rufio schüttelte den Kopf. »Lieber nicht.«
Lorenzo musterte ihn überrascht. »Das klang aber vorhin anders«, meinte er gedehnt.
»Ich werde hier mehr gebraucht.«
»Wenn du Großvater meinst – ich könnte jederzeit jemanden für die Pflege einstellen.«
»Nein, ich denke nicht, dass das im Sinne der Familie wäre. Für alle Beteiligten ist es am besten, wenn es so bleibt, wie es ist. Außerdem nähere ich mich einem Alter, in dem man sich nicht mehr ständig auf einem Pferd oder auf Schiffsplanken durchschütteln lassen sollte.«
»Wie alt bist du eigentlich?«, platzte Lorenzo heraus. Wärme stieg in seine Wangen, weil ihm die Frage peinlich war. Als noch unangenehmer empfand er allerdings den Umstand, dass er sein ganzes Leben mit Rufio verbracht hatte, aber nicht einmal sein genaues Alter
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