Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
in den Sinn, was er damit zum Zwecke seiner privaten Erbauung hätte anstellen sollen. Also tat er das, was er als nahe liegend empfand: Er kümmerte sich schlicht nicht darum, sondern lebte weiter wie immer.
Er begrüßte seinen Onkel herzlich, nachdem er über den gefliesten Andron die Treppe zum Portego hochgestiegen war und den angrenzenden Wohnraum betreten hatte, wo Francesco eine Reihe bequemer Lehnstühle vor den Fensterbögen gruppiert hatte. Er setzte sich in den angebotenen Sessel und streckte die Beine aus. »Du hattest Recht«, sagte er. »Der Portugiese hat stark an sich gehalten, aber seine Blicke haben ihn verraten. Er hatte etwas zu verbergen. Um ganz sicherzugehen, müsste ich mit Pereira persönlich zusammentreffen, denn wenn jemand als Entdecker infrage kommt, dann nur er. Er hat die Meridiane berechnet und in Tordesillas die Verhandlungen geführt. Doch nach Lage der Dinge halte ich es für überflüssig, die Tatsachen sprechen für sich. Deine Annahme, dass die Portugiesen Land gefunden haben könnten, scheint mir zutreffend.«
Sie saßen einander gegenüber, vor sich kleine Tische, auf denen Schalen mit Konfekt und Pokale mit Wein standen. Lorenzo hatte bei der Wärme keinen Appetit, aber den Wein verschmähte er nicht. Es war ein mindestens dreißig Jahre alter spanischer Roter, dunkel wie kupfrige Erde und so gehaltvoll, dass er augenblicklich zu Kopf stieg. Der Weinkeller seines Onkels suchte in Venedig seinesgleichen, was angesichts der Tatsache, dass Francesco seit seinem letzten Exzess kaum noch einen Tropfen trank, immer wieder leichte Belustigung in Lorenzo hervorrief.
»Es muss mehr sein als nur ein kleines Inselchen«, meinte Francesco nachdenklich. Er hatte das Kinn auf die Hand gestützt, die Lider halb geschlossen. »So, wie sie sich benehmen, muss es um eine gewaltige Landmasse gehen.« Er lachte. »So groß, dass sie es selbst noch gar nicht abschätzen können.«
Lorenzo genoss es, seinen Onkel lachen zu sehen, und er dachte bei sich, dass dieses Antlitz, obwohl es mittlerweile von tiefen Falten durchzogen war, eine unveränderte Anziehungskraft ausstrahlte. Während bei seiner Mutter im Laufe der letzten Jahre die straffen Gesichtskonturen einer welkenden Kinn- und Wangenpartie gewichen waren, schien sich bei Francesco die Ausgeprägtheit der Züge eher noch stärker entwickelt zu haben. Sein Gesicht wirkte magerer und kantiger als je zuvor, wie von einem Bildhauer mit hartem Meißel auf das Nötige reduziert. Sein Haar zeigte deutliche Spuren von Grau, aber es fiel ihm immer noch in vollen Locken in die Stirn, und seine Schultern waren unter dem nachlässig geschnürten Wams so breit wie eh und je.
Lorenzo überlegte, wann sein Vater das letzte Mal gelacht hatte, so wie Francesco eben, doch er erinnerte sich nicht. Hatte sein Vater überhaupt je derart herzlich gelacht? Giovanni und Francesco sahen einander ähnlich, jeder erkannte sofort, dass die beiden Brüder waren. Und dennoch waren sie völlig verschieden in ihrer Wesensart. Ob es tatsächlich am Lachen lag? Francesco war draufgängerisch, fröhlich, offen und charmant, während Giovanni sich seit jeher eher zurückhaltend, kühl und verschlossen gab.
»Was glaubst du, wann die Portugiesen das Land offiziell entdecken?«, fragte Lorenzo.
Francesco zuckte die Achseln. »Das wage ich nicht zu beurteilen. Du müsstest es mit deiner diplomatischen Erfahrung eher einschätzen können.«
Lorenzo trank von dem Wein. »Wenn es stimmt und wenn es tatsächlich so riesig ist – noch weitere drei Jahre, vielleicht sogar vier. Ferdinand von Aragón würde nicht nur toben, sondern den Vertrag mit Sicherheit anfechten.«
»Zeit genug für uns, herauszufinden, was dort zu holen ist, meinst du nicht?«
»Soll das heißen, dass du bereit bist, dich zu deiner nächsten großen Reise aufzumachen?«, fragte Lorenzo. Er lächelte, doch gleichzeitig spürte er bereits die Melancholie des nahenden Abschieds. Ein Jahr mindestens, eher sogar zwei – es würde wieder eine lange Trennung werden.
Sein Onkel bestätigte seine Vermutung. »Meine Seekiste ist schon gepackt. Aber keine Sorge, wir bleiben in Verbindung. Ich nehme natürlich die Tauben mit. Sie finden immer wieder den Weg zurück zu dir.«
Die beiden Tauben saßen auf ihren Stangen, die Körper zu seidigen weißen Bällen aufgeplustert. Das Dach hätte ihm leer vorkommen müssen ohne das vielfältige Gurren und Flattern und Rascheln der anderen Vögel. Und doch war es
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