Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
wahr?«
Sie berührte seine Schulter und griff nach der Hand der schluchzenden Magd.
Dann war es ihr, als würden unsichtbare Fäden von oben an ihr ziehen, und unwillkürlich richtete sie ihre Blicke aufwärts. Oben am offenen Fenster ihrer alten Kammer stand Pasquale und schaute mit brennenden Augen zu ihr herab.
Sie bat ihn, mit ihr zum Grab ihrer Eltern zu gehen, weil sie nicht im Haus oder in der Werkstatt mit ihm sprechen wollte, wo überall Menschen waren, die sie reden hören konnten. Er nickte schweigend und kam sofort mit.
Das von wilden Blumen und Strandhafer umwucherte Geviert des Friedhofs hinter der Kirche erschien ihr kleiner als bei ihrem letzten Besuch. Doch das war, wie sie inzwischen gelernt hatte, eine normale Entwicklung. Die Wahrnehmung von Entfernungen und Perspektiven veränderte sich im Laufe des Lebens. In der Kindheit und frühen Jugend kam einem vieles gewaltig vor, was zehn Jahre später auf ganz gewöhnliche Maße zusammengeschrumpft war. Das musste erst recht gelten, wenn man in der Zwischenzeit wirklich große Bauten gesehen hatte. Im Vergleich etwa zu Santa Maria del Fiore oder der Basilika von San Marco musste der schlichte Backsteinbau von San Pietro Martire winzig erscheinen.
Das Grab war gepflegt, er musste nach seiner Rückkehr bereits hier gewesen sein. Sauber gestutzte, immergrüne Gewächse überzogen die Fläche unterhalb des Grabsteins, und am Sockel des Marmors stand ein abgebranntes Talglicht.
Sanchia schaute Pasquale fragend an.
»Manchmal komme ich her und zünde eine Kerze an«, sagte er angestrengt. Er griff an sein versehrtes Auge und rieb es, ohne die Klappe zu entfernen.
»Macht es dir zu schaffen?«
»Hin und wieder tränt es«, meinte er knapp.
Sie suchte nach Worten und fing schließlich mit einer Belanglosigkeit an. »Ich wäre schon früher gekommen. Aber ich war krank und fast zwei Wochen ans Bett gefesselt.« Sie wollte hinzufügen, dass sie nicht einmal an den Hochzeitsfeierlichkeiten hatte teilnehmen können, gleichsam als Überleitung zu der Nachricht, derentwegen sie hergekommen war. Doch sie brachte es nicht über die Lippen.
»Ich hoffe, du bist wieder vollständig genesen«, sagte er steif.
»Ja, sicher, es geht wieder. Ich hatte mich bei … bei einem Kind angesteckt, dergleichen kommt vor bei meiner Arbeit.«
Sie merkte, dass es ihm schwerfiel, sein Bein zu belasten. »Da drüben ist eine Bank«, sagte sie. »Ich würde mich gern niedersetzen.«
Er folgte ihr stumm zu der steinernen Bank, die rechts und links von Zypressen eingerahmt war. Sie setzten sich nebeneinander. Pasquale hatte die Hände auf die Knie gelegt und starrte stumm geradeaus. Wartete.
»Pasquale«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Es tut mir so leid.«
Er nickte. Stumm und ohne sichtbare Regung.
»Sie … sie war so allein«, sagte sie verzweifelt. »Du weißt, sie ist ein Mensch, der auf die Zuneigung anderer angewiesen ist. Und er … er war da, als sie so sehr jemanden brauchte …« Die Stimme versagte ihr. Was immer sie sagen würde, es musste sich für ihn alles schrecklich falsch anhören.
Doch sie hatte sich in ihm getäuscht. Als er sprach, klang seine Stimme schleppend, aber gefasst. »Ich habe beide gesehen, sie und ihn. Sie lachten.«
Sanchia erwiderte nichts, und er schien auch keine Antwort zu erwarten.
»Sie war wunderschön. Ihr Lachen … noch nie habe ich gesehen, dass sie so lacht. Es war zu sehen, dass sie glücklich ist.«
»Pasquale …«
»Weißt du, dass er der Arzt ist, der mein Bein wieder hergerichtet hat? Er war auf der Reise von Rom nach Venedig, und in Padua hat er Zwischenstation gemacht. Das war ein Glück für mein Bein. Er hat ein Stück vom Knochen entfernen müssen, aber die Wunde hat er nicht ausgebrannt wie der Arzt, der den Fuß damals abgenommen hatte, sondern er hat die Blutungen mit Klemmen gestillt und die Hautlappen sauber vernäht. Es ist gut verheilt, und seither habe ich kaum noch Schmerzen. Vielleicht kannst du ihm das gelegentlich sagen. Er hat es sehr gut gemacht. Ein fähiger Medicus. Ein ordentlicher Mensch. Sie hat eine gute Wahl getroffen.« Seine Worte kamen schnell und mühsam, wie nach einem anstrengenden Marsch.
»O mein Gott, Pasquale …«
Abermals unterbrach er sie, und sie begriff, dass sie die Tiefen seines Leids noch nicht ausgelotet hatte. »Das Kind«, flüsterte er. »Mein Sohn … er ist … ein schönes Kind. So fein und wohlgestaltet. Ich … ich hätte ihn so gern ein einziges
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