Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
auf Filippo warten zu müssen, wäre sie am liebsten in Tränen ausgebrochen.
Maddalena musterte sie aufmerksam, dann nickte sie langsam. »Ich hätte es gleich merken müssen. Es tut mir leid, Sanchia. Andererseits hättest du dir nichts vergeben, es mir einfach zu sagen. Eigentlich dachte ich, wir wären mittlerweile recht gute Freundinnen.«
»Ich war nicht vorbereitet auf …« – Sanchia machte eine Geste zu den Toten hin – » …das hier. Vor allem nicht darauf, dass es mir zusetzen würde. Und irgendwann hätte ich es dir schon noch erzählt. Schließlich möchte ich dich zur fraglichen Zeit an meiner Seite haben.«
»Sprach die eine Hebamme zur anderen.« Maddalena legte die Instrumente zur Seite, mit dem Sezieren war sie für den Moment fertig. »Wann wäre denn die fragliche Zeit?«
»Nach meinen Berechnungen um Neujahr herum.«
»Na dann. Gratuliere – Mama!«
Das Gesicht des Alten war spitz und bleich, mit Knochen, die unter der pergamentartigen Haut hervortraten. Die Augen unter den faltigen Lidern waren stark eingesunken, als wäre der Tod schon vor Wochen statt vor zwei Tagen eingetreten. Die Nase ragte wie ein dünner Habichtschnabel aus dem Profil heraus und ließ den Verstorbenen noch ausgemergelter wirken.
Sanchia forschte im Gesicht des Mannes auf der Bahre nach Ähnlichkeiten mit seiner Tochter und seiner Enkelin, doch seine greisen Züge blieben ihr fremd. Er hatte nichts an sich, das sie an Caterina oder Eleonora oder gar Lorenzo erinnert hätte. Vielleicht lag es auch daran, dass er so alt geworden war, fast achtundneunzig. Beinahe hätte er tatsächlich seine Ankündigung wahr gemacht, die hundert zu erreichen, und vermutlich hätte er das sogar geschafft, wenn nicht eine versehentlich verschluckte Fischgräte seinem Leben binnen weniger Augenblicke ein Ende gesetzt hätte.
Sanchia trat von einem Fuß auf den anderen, sie war erschöpft und fühlte sich erhitzt, obwohl sie im Gegensatz zu Lorenzo, der bereits an der Totenwache in der vergangenen Nacht teilgenommen hatte und entsprechend lange auf den Beinen war, erst vorhin zur Seelenmesse dazugekommen war. Während der Geistliche mit hoher Singstimme Psalmen intonierte, standen die nächsten Angehörigen des Toten unweit der Bahre und harrten dem Ende der Feierlichkeiten entgegen. Es war heiß draußen, und auch in der Kirche war es mittlerweile unerträglich stickig. Der Geruch, der über Nacht um die Leiche herum entstanden war, begann dem Gestank zu ähneln, der Sanchia schon vor zwei Wochen in der Totenkammer von San Zanipolo den Magen umgedreht hatte. Fliegen schwirrten über dem Podest, auf dem der Verstorbene aufgebahrt war, und der eine oder andere der Trauergäste, denen sie ebenfalls zusetzten, hob verstohlen die Hand, um die lästigen Plagegeister abzuwehren.
Sanchia hätte am liebsten Lorenzos Hand ergriffen, um sich seiner Anwesenheit zu versichern. Er war direkt neben ihr, so dicht, dass sie den Druck seines Oberarmes an ihrer Schulter spüren konnte, doch es war ihr nicht genug. Sie fühlte sich seltsam schutzlos in der Gegenwart seiner Mutter. Caterina stand mindestens fünf Schritte weit weg, und sie hatte bestimmt nicht öfter als bei solchen Anlässen üblich herübergeschaut. Dennoch fühlte Sanchia sich auf eine Weise beobachtet, die ihr einen ähnlichen Schauer über den Rücken jagte wie damals, als sie sieben Jahre alt gewesen war. Die Anwesenheit ihres Schwiegervaters, der ihr vorhin bei der Begrüßung mit seiner üblichen freundlichen Zurückhaltung begegnet war, konnte Sanchias Unbehagen kaum dämpfen. Lorenzo hatte es längst aufgegeben, das Verhalten seiner Mutter zu rechtfertigen. Irgendwann waren sie dazu übergegangen, einfach nicht mehr über seine Eltern zu sprechen, vor allem nicht über Caterina.
Hätte Sanchia nicht in Florenz jene letzte Unterredung mit Giulia geführt, hätte sie sich im Grunde über das Verhalten ihrer Schwiegereltern kaum beklagen können, denn sie taten nur das, worauf Sanchia Wert legte: Sie ließen sie und Lorenzo in Ruhe.
Schon bei der Hochzeit hatten sie sich kurzfristig entschuldigen lassen, weil Giovanni an Fieber erkrankt war und Caterina nicht ohne ihn kommen wollte.
Da sie ohnehin nur im engsten Kreis geheiratet hatten, waren außer Pasquale nur Girolamo und Annunziata in der Kirche erschienen, als Pater Alvise die Trauung vorgenommen hatte. Oben hinter dem Flechtwerk der Chorempore war Gewisper und Gekicher ertönt, und Sanchia hatte mit Tränen in den
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