Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Novizen für die Aufsicht und Säuberung der Totenkammer zuständig war, gab es für sie kein Halten mehr.
Mit leuchtenden Augen hatte sie Sanchia ihren Plan erläutert. »Eine heimliche Sektion kann uns ins Gefängnis bringen, doch teilnehmen dürfen wir auch nicht, da wir dummerweise Frauen sind. Aber wenn sie alle dort fertig sind und wir uns reinschleichen, um einen kurzen Blick auf das Innere eines bereits geöffneten menschlichen Körpers zu werfen, kann uns das höchstens als weibliche Neugier ausgelegt werden, es wäre also nur eine lässliche, winzig kleine Sünde.«
Sanchia war ziemlich sicher, dass jeder denkende Mensch unter weiblicher Neugier etwas völlig anderes verstand, doch ihr Protest war nur halbherzig ausgefallen und schließlich ganz verstummt. Die Versuchung war einfach zu groß.
Filippo schleuste sie durch eine Seitentür der Sakristei in einen flachen Anbau und von dort ins Freie, wo sie an einer Reihe übel riechender Latrinen vorbeimarschierten und anschließend durch einen Hintereingang das Spital betraten. Der Geruch von Kampfer und brennenden Kräutern lag in der Luft, doch Sanchia glaubte bereits, aus der Ferne den süßlichen Gestank von verwestem Fleisch wahrnehmen zu können. Ihr Magen krampfte sich leicht zusammen, wobei sie sich nicht festlegen mochte, ob die Aufregung wegen der bevorstehenden Aktion oder doch vielleicht eher ein Anflug von Übelkeit dafür verantwortlich war.
Sie folgten dem jungen Mönch durch einen verwinkelten, menschenleeren Gang. Nur einmal begegnete ihnen ein vorbeieilender Pfleger, doch da das Spital ein öffentlich zugänglicher Bereich war, erregten sie keine Aufmerksamkeit.
Sie hatten die Leichenkammer erreicht. Filippo öffnete die schwere Holztür und schaute sich dabei nach allen Seiten um. »Ich muss Euch einschließen, damit Euch niemand überraschen kann«, flüsterte er. »Die Kerzen und Kräuterpfannen habe ich bereits angezündet. Ihr müsst sie löschen, wenn ich Euch später wieder herauslasse. Die Läden sind natürlich geschlossen und müssen es auch bleiben. Und für den Fall, dass Ihr … dass Ihr etwas anfasst, müsst Ihr streng darauf achten, nichts herunterfallen zu lassen. Bruder Ippolito hat bereits den Boden geschrubbt. Wir hätten die Leichen eigentlich nach der Sektion heute Morgen auch schon wegschaffen müssen, aber ich habe gesagt, dass mir schlecht ist und dass wir lieber noch bis nach der Non warten.«
»Dann haben wir ja ewig Zeit!«, frohlockte Maddalena.
Filippo schüttelte energisch den Kopf. »Eine halbe Stunde, das ist das Äußerste. Jetzt herrscht noch Mittagsruhe, aber in einer Stunde ist wieder viel Betrieb. Es kommen ständig Besucher und Medici und Pfleger.« Er hob entnervt die Schultern. »Es ist eine verrückte Idee. Ich weiß nicht, warum ich dabei mitmache.«
Sanchia half ihm auf die Sprünge. »Natürlich Lucietta zuliebe.«
Er nickte dankbar.
Maddalena starrte ihn neidisch an, bevor sich ihr Blick durch den Türspalt in den dahinter liegenden Raum stahl. »Wisst Ihr eigentlich, was Ihr für ein Glück habt?«
Seine Miene verklärte sich. »Ja, es ist nicht jedem vergönnt, ein so wunderbares Geschöpf wie Lucietta lieben zu dürfen!«
Maddalena schnaubte. »Schließt uns schon ein, wir wollen keine Zeit vergeuden.«
Der Geruch in der Totenkammer traf sie wie eine Keule, und nachdem das Knarren des Schlüssels verklungen war und sie sich in dem nur vom Licht dreier Kerzen erhellten Raum orientiert hatten, fragte Sanchia sich mit wachsender Beklommenheit, worauf sie sich hier eingelassen hatte. Normalerweise war sie keine ängstliche Natur, aber mit zwei stinkenden Leichen bei Kerzenlicht in einer Kammer eingesperrt zu sein konnte sogar robustere Gemüter erschüttern.
Maddalena schien das ganz anders zu sehen, sie eilte sofort zu einem der Tische und zog das Leinentuch weg, mit dem der Tote bedeckt war.
»Ah!«, sagte sie glücklich. »Er ist von oben bis unten aufgeschnitten!« Sie ergriff eine der Kerzen und hielt sie über der Leiche hoch, dann schaute sie sich um, bis sie den Tisch ausgemacht hatte, auf dem die Instrumente lagen. Sie holte einen Haken und eine spitze Sonde und beugte sich über die Leiche. Sanchia trat neben sie und versuchte, möglichst flach zu atmen. Die glimmenden Kräuterbecken entwickelten reichlich würzigen Rauch, aber das konnte den Gestank kaum dämpfen. Sie war zwar halbwegs daran gewöhnt, weil sie schon oft Verstorbene, vor allem Neugeborene, zu den
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