Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
wusste, dass ihr verräterische Röte ins Gesicht geschossen war. Wie sollte sie jetzt noch ihr Wissen abstreiten, nachdem er es ihr offenbar an der Nasenspitze hatte ansehen können? So gesehen war es ein Wunder, dass sie es bis heute überhaupt geschafft hatte, das Geheimnis vor Lorenzo zu bewahren!
»Ja«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich weiß es. Ich denke dadurch aber nicht schlecht über dich«, versicherte sie ihm sofort anschließend. »Du hattest keinen Einfluss auf die Geschehnisse, denn du warst ja nicht da. Es war ihre Entscheidung, es ohne deine Hilfe zu schaffen und nicht nach Hause zurückzukehren.«
Er schaute sie an, und in seiner Miene spiegelte sich so viel offene Qual, dass es ihr den Atem verschlug. »O Gott, das aus deinem Mund zu hören … Sanchia …«
Zu ihrer Bestürzung stiegen ihm Tränen in die Augen, und er zog sich aus dem Sessel hoch, um vor ihr auf die Knie zu fallen.
»Was …?«, brachte sie mühsam heraus.
Er reagierte sofort und stand wieder auf. »Verzeih. Ich vergesse es so leicht.« Er schüttelte den Kopf wie ein gereizter Löwe und begann, mit ausgreifenden Schritten in dem kleinen Saal auf und ab zu gehen, als müsse er auf einem Schiff die Strecke von einer Reling bis zur anderen abschreiten. »Es ist nur so … Ich habe sie so sehr geliebt. Niemanden vor ihr und niemanden nach ihr. Keine war wie sie, nicht für mich. Wenn du auch sonst alles weißt – das aber sicherlich nicht, denn sie konnte es dir ja nicht mehr sagen.«
Sanchia starrte ihn verblüfft an. In der Tat, davon hatte Giulia ihr kein Wort gesagt. Umgekehrt mochte eher Liebe im Spiel gewesen sein, Giulia hatte nicht umsonst zu Beginn ihrer Schwangerschaft so verzweifelt und wütend in der Kirche von San Lorenzo geweint. Sie hatte Sanchia gegenüber sogar erwähnt, wie sehr sie sich gewünscht hatte, Francesco an sich binden zu können, und dass sie in der Hoffnung darauf sogar das unwürdige Schauspiel bei der Andata auf sich genommen hatte, weil Sagredo ihr weisgemacht hatte, sich im Gegenzug bei Francesco für sie einsetzen zu wollen. Doch dass Francesco … Nein, diese Verlautbarung kam für Sanchia absolut überraschend.
Sie räusperte sich. »Von deiner Liebe zu ihr hat sie mir nichts gesagt. Aber ich denke, es hätte sie gefreut, das zu hören.«
»Sie hat es gehört, unzählige Male! Oh, was ich darum gäbe …« Er blieb mitten in seinem Marsch stehen, um sie anzuschauen. »Du ahnst nicht, wie ähnlich du ihr bist. Nicht nur, dass du ihren Namen trägst! Dein Gesicht könnte ihres sein, dein Haar, deine Lippen, deine Augen …« Er schluckte. »Ich habe ihr Schmuck in der Farbe ihrer Augen geschenkt, Aquamarine. Sie hat ihn bis zum Schluss getragen, zusammen mit …« Sein Blick fiel auf den Anhänger, der in dem Ausschnitt ihres Kleides ruhte. »Zusammen damit«, flüsterte er. »Das silberne Wikingerschiff, das sie aus ihrer Heimat mitgebracht hatte. Es war das Einzige, was ihr geblieben war.«
Sanchia merkte nur wie aus der Ferne, dass ihr der Teller aus der Hand gerutscht war. Benommen starrte sie auf einen Punkt gegenüber an der Wand, als könnte sie so die Nebel vertreiben, die sich vom äußeren Rand ihres Gesichtsfeldes zusammenzogen und ihre Blicke trübten.
Es wurde dunkel um sie, doch aus der Dunkelheit manifestierte sich plötzlich eine erschreckende Klarheit. Worte kamen ihr in den Sinn, sie lösten sich aus der Zeit ihrer Kindheit und fügten sich zusammen wie Rätselsteine, die jemand verstreut hatte und die mit einem Mal zueinander passten, auf eine Art, die weit grauenerregender war, als sie es sich je hätte vorstellen können.
»Sie lag im Sterben und gab dir den Anhänger«, sagte Vittore.
»Warum stirbst du nicht?«, schrie Caterina. »Warum kannst du nicht einfach tot sein?«
»Das ist … ein Trugbild … Ich habe … sollte wirklich nicht mehr so viel trinken …«
Die Bilder stürmten plötzlich von allen Seiten auf sie ein.
»Sanchia!«, flüsterte eine Stimme. »Sanchia, komm zu dir!«
Hände rissen an ihrem Kleid, zerrten die Verschnürung auf, klatschten gegen ihre Wangen. Die Stimme wurde lauter, verwandelte sich von einem Flüstern in Rufe, und als sie mit einem keuchenden Atemzug die Augen aufschlug, sah sie sein Gesicht aus unmittelbarer Nähe vor sich. Er gab ihr noch zwei, drei leichte Ohrfeigen, bevor er merkte, dass sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war. Verlegen trat er einen Schritt zurück und ordnete sein verrutschtes Wams, das
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