Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
von Kuchenkrümeln übersät war.
Aurelia kam durch die Tür geschossen, mit einer Geschwindigkeit, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie auf der Treppe gelauscht hatte.
»Mon Dieu!«, rief sie aus. Hastig machte sie sich an Sanchias aufgerissenem Kleid zu schaffen, während sie Francesco von der Seite mit bitterbösen Blicken maß.
»Es ist gut, ich bin nur kurz ohnmächtig gewesen, es ist schon in Ordnung.« Sanchia wehrte die helfenden Hände ab und zog die Schnüre an ihrem Kleid selbst wieder zusammen. »Du kannst gehen.«
Aurelia sammelte die Speisereste auf, räumte Gläser und Teller zurück auf das Tablett und verschwand mit wehender Schürze und empört durchgedrücktem Rücken.
»Ich fürchte, bei ihr habe ich für alle Zeiten verspielt«, sagte Francesco mit aufgesetzter Belustigung.
Als Sanchia ihn anstarrte, fuhr er leicht zusammen. »Ich ahne, dass ich noch mehr falsch gemacht habe.«
Sie gab keine Antwort, und er nickte, als hätte er nichts anderes erwartet.
»Du hast es überhaupt nicht gewusst«, stellte er fest. Seine Stimme klang gelassen, doch die unterdrückte Anspannung war deutlich herauszuhören. »Es war dir völlig neu. Ein einziger höflicher Verwandtschaftsbesuch meinerseits, nur um endlich der Familienehre Genüge zu tun – und ich hirnloser Ochse nutze gleich das erstbeste Missverständnis, alles sofort zu verderben.«
Sanchia holte Luft und setzte sich aufrecht hin. »Für diese Erkenntnis ist es jetzt wohl zu spät. Da du nun einmal davon angefangen hast – lass uns auf das eigentliche Thema zurückkommen und über die Frau reden, die so hieß und so aussah wie ich. Die Frau, die ich leider nie kennen lernte.« Sie schaute ihm geradewegs in die Augen. »Meine Mutter.«
Sie war sechzehn Jahre alt gewesen, und er hatte mit ihr die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht. Schon damals war er viel gereist, doch er hatte ihr versprochen, sie auf seiner nächsten Fahrt mitzunehmen – als seine Frau. Ein letztes Mal hatte er sich noch eingeschifft, zu einer wichtigen Reise, die er nicht hatte aufschieben können.
Als er zurückkam, war sie verschwunden. Er hatte die ganze Stadt nach ihr abgesucht, doch niemand hatte sie gesehen.
Alle Mitglieder des Haushalts hatten geschworen, dass sie einfach so weggelaufen war, vielleicht weil sie sich wegen ihrer Schwangerschaft schämte.
»Sie hatte keinen Grund, sich zu schämen«, flüsterte Francesco. Er saß zusammengesunken in dem Sessel, den Kopf in beide Hände gestützt. »Ich hätte sie zur Frau genommen, ob mit oder ohne Kind unter dem Herzen. Mir war alles egal. Dass sie eine Sklavin war, dass ich doppelt so alt war wie sie … Nichts war mir wichtig. Nur sie. Als sie weg war, ist für mich eine Welt zusammengebrochen.« Er blickte auf und sah mit einem Mal nicht mehr jung aus, sondern wesentlich älter, als er war. »Ich habe getrunken, jahrelang, weit mehr, als mir gut tat. Aber die Erinnerungen … sie sind geblieben. Später, sehr viel später habe ich … habe ich erfahren, dass sie bei deiner Geburt gestorben ist.«
Sanchia stand auf. In ihr hatte sich eine Kälte ausgebreitet, die bis in die Fingerspitzen reichte.
»Geh bitte«, sagte sie schroff. »Onkel.« Ihre Stimme triefte vor ätzendem Sarkasmus. »Das Beste wäre wirklich, du gehst so schnell wie möglich wieder auf Reisen!«
»Aber …«
Sie hob abwehrend die Hand. »Es ist alles gesagt. Ich will jetzt allein sein.«
Er erhob sich sofort und wandte sich stumm zum Gehen.
Verkrampft blieb sie stehen, bis er verschwunden war. Als sie sicher sein konnte, dass er nicht zurückkehren würde, machte sie sich eilig fertig, um nach Murano zu fahren.
Sie mietete einen schnellen Segler, um nicht unnötig Zeit zu verlieren. Sie wollte sich nur Klarheit verschaffen und anschließend noch bei Tageslicht zurückkehren.
Nach dem Erreichen der Glasinsel führte ihr erster Weg sie jedoch nicht zu Pasquale, sondern auf den Friedhof.
Vor dem Grab ihrer Eltern blieb sie stehen, die Hände vor der Brust gefaltet. Die mit Immergrün bewachsene Fläche lag in der Sonne, deren Licht von den hell gekalkten Wänden, die den Friedhof gegen das Meer abschirmten, noch verstärkt wurde. Die Zypressen wogten im Wind und warfen zitternde Schatten über den Marmorstein auf der Grabstätte.
»Niemals«, flüsterte sie.
In ihren Gedanken beendete sie, was sie an Worten nicht hervorbringen konnte. Niemals würde sie andere Eltern haben wollen als die, bei denen sie
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