Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
vor. Sie war fünfzehn, und sie war vor ungefähr drei Jahren aus Paris gekommen, als Geliebte eines Kaufmanns, der sie nach kurzer Zeit fallen gelassen hatte. Sanchia hatte sie nach einer schweren Fehlgeburt an der Grenze zwischen Leben und Tod in einem Bordell aufgelesen. Obwohl die Kleine bis über beide Ohren in Lorenzo verliebt war und kaum einen Hehl daraus machte, hatte Sanchia bisher nicht bereut, sie aufgenommen zu haben. Wenn sie schon Dienerschaft hatte, sollten es auch Menschen sein, die sie damit vor einem üblen Schicksal bewahrte, das half ihr dabei, sich nicht ständig wie eine verwöhnte Gans zu fühlen.
Sanchia stand auf. Der Gedanke, allein ihrem Schwiegervater gegenübertreten zu müssen, verursachte ihr Unbehagen, und sie fragte sich, ob er womöglich erwartete, Lorenzo noch anzutreffen.
»Hast du ihm gesagt, dass der Herr sich vorgestern eingeschifft hat?«
»Der Besucher meinte, er möchte Euch seine Aufwartung machen.«
Sie konnte ihm schlecht die Tür weisen, das wäre mehr als unhöflich gewesen.
»Führ ihn bitte herein«, sagte sie zögernd.
Aurelia nickte und eilte nach unten.
Kurz darauf hörte Sanchia leichtfüßige Schritte auf der Treppe, und im nächsten Augenblick erschien ein Mann, mit dem sie im Traum nicht gerechnet hätte. Er hielt einen gewaltigen Korb in den Armen, der mit Blumen dekoriert war und allerlei Leckereien enthielt.
»Messèr Caloprini«, stieß sie überrascht hervor.
»Onkel Francesco«, sagte er.
Sie starrte ihn an.
»Oje, bin ich daran schuld?«, fragte er.
Verständnislos erwiderte sie seinen Blick, und erst, als er auf ihre Hand deutete, bemerkte sie, dass sie sich mit dem Zirkel in den Finger gestochen hatte. Ein Tropfen Blut fiel von der Spitze ihres Zeigefingers auf den blanken Terrazzoboden, und unwillkürlich saugte sie an der kleinen Wunde, um die Blutung zu stillen. Sie schob den Zirkel zur Seite, blieb dabei aber hinter dem Pult stehen, fast so, als bräuchte sie ein Bollwerk zwischen sich und dem unerwarteten Gast.
»Soll ich das irgendwo abstellen?« Er hob den Korb ein wenig höher und lächelte. »Mit Empfehlung von meiner Schwägerin und meinem Bruder. Sie hätten selbst gelegentlich gern vorbeigeschaut, aber die Geschäfte … Der arme Giovanni, er versucht, unser aller Geld zu retten, nachdem allein in diesem Jahr schon die Hälfte aller wichtigen Banken zusammengebrochen sind. Der Krieg, weißt du.«
Sie nickte und besann sich auf ihre Höflichkeit. Es war albern, sich hinter dem Pult zu verschanzen. Mit raschelnden Röcken eilte sie ihm entgegen und nahm ihm den Korb ab.
»Aurelia?«
Die kleine Zofe erschien blitzartig hinter der Säulenbalustrade der Treppe, und Sanchia drückte ihr den Korb in die Arme. »Bring das doch bitte in die Küche.«
Ihr Blick fiel auf das Gebäck, das in Form appetitlich duftender kleiner Kuchen um eine Flasche Wein herum drapiert war, und prompt lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Es gab mehr als eine Art von Gelüsten, die ihr die Schwangerschaft beschert hatte, und reichhaltiges Essen war derzeit dasjenige, das an erster Stelle stand.
»Richte bitte den Kuchen an und serviere uns von dem Wein«, sagte sie.
Aurelia nickte zerstreut, die Blicke unverwandt auf den attraktiven älteren Patrizier gerichtet, der so unvermutet hereingeschneit war.
Francesco lächelte der Kleinen zu, und Aurelia stolperte auf dem Weg zur Treppe beinahe über ihre eigenen Füße. Sanchia konnte es ihr nicht verdenken. An ihre erste und bisher einzige Begegnung mit ihm in dem rußigen, nach Asche stinkenden Andron erinnerte sie sich nur dunkel, aber sie erkannte sofort, dass er eine beinahe magische Aura verströmte. Nach allem, was sie bereits über ihn erfahren hatte, war seine Wirkung auf Frauen legendär, und in diesem Moment, da er ihr gegenüberstand, bekam sie eine Vorstellung vom Wahrheitsgehalt des diesbezüglichen Getuschels. Er musste Ende fünfzig sein, doch seinem Aussehen nach hätte er gut und gern zehn Jahre jünger sein können. Er hielt sich straff und gerade, sein Haar war dicht und lockig, und die gesunde Bräune seines Gesichts unterstrich seine Vitalität und Jugendlichkeit ebenso wie der strahlende Glanz seiner Zähne.
Sanchia fühlte ihr Herz flattern, nicht nur, weil er Lorenzo so ähnlich sah, sondern weil er Marco so sehr aus dem Gesicht geschnitten war, dass sie es kaum geglaubt hätte, wenn ihre Erinnerungen an den Kleinen nicht noch so plastisch vor ihr gestanden hätten.
Er war
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