Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
damals als … Wir hatten eine schwere Zeit. Ich habe ein Kind verloren, eine Tochter. Sie starb gleich nach der Geburt.«
»Das tut mir leid«, sagte Pasquale betroffen.
Sie war blass geworden, aber ihre Stimme blieb ruhig. »Fausto weiß, dass ich dich besuche. Es ist nicht leicht für ihn, aber er vertraut mir und ist sich meiner sicher. Das kann er auch sein, denn ich liebe ihn. Dennoch kann ich so nicht weitermachen, nicht mit der Last dessen, was ich dir angetan habe. Für dich und mich wird es höchste Zeit, reinen Tisch zu machen und alte Wunden zu heilen.«
Er nickte mit gesenkten Blicken. Worte drängten sich auf seiner Zunge, unzählige Fragen, mit denen er sie bestürmen wollte, um herauszufinden, warum alles so gekommen war. Doch als er sie aussprechen wollte, schaffte er es nicht.
Als er aufblickte und sah, mit welcher Verzweiflung sie ihn anschaute, erkannte er plötzlich zu seiner Überraschung, dass der Schmerz weg war. Jahrelang hatte er unter der Oberfläche seiner Stimmungen gelauert wie ein heimtückisches Tier, das nur auf den passenden Moment wartete, ihn anzufallen. Immer wieder war es zu diesen Attacken gekommen, meist in solchen Momenten, in denen er am wenigsten damit rechnete. Kleinigkeiten hatten ausgereicht, um ihm die Luft abzuschnüren und ihn für den Rest des nachfolgenden Tages mit Schwermut zu erfüllen. Der Anblick eines dunkelhaarigen Knaben, der so alt war wie sein Sohn. Eine braunhaarige Frau mit runden Hüften. Oder der Duft einer guten Mahlzeit, der aus einem Haus drang, an dem er vorüberkam.
Jetzt saß sie ihm auf Armlänge gegenüber, und er spürte – nichts. Nur die Erleichterung, sie gesund und wohlauf wiederzutreffen, und das Glücksgefühl, weil er sein Kind sehen durfte.
Irgendwann, vielleicht vor Monaten, vielleicht auch schon im letzten Jahr, war der Schmerz abgeflaut und schließlich ganz ausgeblieben, aber anscheinend hatte er selbst es gar nicht bemerkt. Bis heute. Er begriff, dass er es überstanden hatte. Sanchia hatte Recht gehabt. Nichts sonst hatte ihm helfen können, nur die Zeit.
Beinahe verdutzt musterte er die Frau, die er so lange geliebt hatte, jedoch diesmal mit anderen Augen und unter neuen Vorzeichen. Eine leise Wehmut war noch da, wie der schwache Nachhall eines wohlklingenden Liedes, das er früher einmal gehört hatte, dessen Noten aber in weiten Teilen verloren waren.
»Wollen wir mit dem Jungen die Spiegel ansehen?«, fragte Eleonora, die in seinem Gesicht gelesen hatte wie in einem offenen Buch. »Und danach gemeinsam essen und einander erzählen, wie es uns in den letzten Jahren ergangen ist?«
»Ja«, sagte er mit fester Stimme. Er atmete tief durch und stand auf, beide Hände auf den Tisch gestützt. »Lass uns die Spiegel ansehen. Und hinterher deinen Kuchen essen.«
Sanchia betrachtete müßig die Zeichnung, die sie angefertigt hatte – ein Kreis mit einem gleichschenkligen Dreieck darin, dessen Ecken an den Kreisbogen stießen. Eine Linie halbierte das Dreieck und war weiter bis zum Kreis durchgezogen. Der Teil der Linie, der innerhalb des Dreiecks lag, stand zu dem äußeren Teil im Verhältnis eben jener göttlichen Teilung, die Euklid bereits in vorchristlicher Zeit entwickelt hatte und die der Franziskaner Pacioli näher erforscht hatte.
Sie hatte bei ihren Messungen das Prinzip überall wieder entdeckt, nicht nur in den geometrischen Figuren, sondern auch in der Natur – in Blättern, Blüten, Bäumen, in den Zeichnungen griechischer Tempel und tatsächlich auch am menschlichen Körper. Sie hätte gern mit jemandem darüber gesprochen, am liebsten mit dem jungen Deutschen, der sich so sehr für die Proportionenlehre begeistert hatte. Ob er seine Forschungen zur Messbarkeit der Ästhetik fortgesetzt hatte? Pacioli und Leonardo, so hatte sie gehört, hielten sich zusammen in Mantua auf, vielleicht machte ihre gemeinsame Arbeit Fortschritte, und sie würde eines Tages darüber lesen können.
Vorn an der Treppe war ein Geräusch zu hören, und Sanchia blickte auf.
Aurelia, ihre Zofe, stand dort und knickste mit roten Wangen. »Besuch ist gekommen, Herrin.«
Sanchia legte die Zeichnung hin. »Wer ist es denn?«
»Er sagt, sein Name sei Caloprini.« Aurelia lächelte mit flatternden Wimpern und spielte mit den Falten ihres neuen zitronengelben Kleides. »Er sieht aus wie der Herr, nur ein bisschen älter.«
Die kleine Zofe hieß eigentlich richtig Aurelie, doch die Venezianer zogen die lateinische Form des Namens
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