Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
vor ihr schien er dem Kanal zu entsteigen, sich flimmernd emporzuheben und einen gewaltigen, strahlenden Bogen hinauf in den Himmel zu schlagen, ein transparentes Band aus tröpfelnden Farben, in die das Auge eintauchen und sich für immer verlieren konnte.
»Ein Regenbogen«, flüsterte sie.
Girolamo nickte. Wunderschön , sagten seine Augen.
Sanchia bekam plötzlich keine Luft mehr. Ihre Kehle hatte sich verengt, schon bevor sie zu dem kleinen Palazzo hinüberschaute, zu dem schmalen gepflasterten Streifen der Fondamenta beidseits des Wassertors und der engen Gasse, die landeinwärts am Haus vorbeiführte.
Girolamo war ihren Blicken gefolgt und ließ um ein Haar das Ruder fahren.
»Herr im Himmel«, sagte sie hilflos.
Er war da. Schmal und groß für seine neun Jahre stand er neben dem Wassertor und blickte einer rasch davongleitenden Gondel nach, deren Felze zugehängt war, dann richtete er seine Blicke auf den näherkommenden Sàndolo. Er war allein, und es war zu sehen, dass er bitterlich weinte. Zu seinen Füßen standen eine hölzerne Truhe und ein Käfig mit einem gelben Singvogel.
»Marco«, stieß Sanchia hervor, obwohl er sie aus dieser Entfernung noch gar nicht hören konnte.
Doch er hob den Kopf, als sie ihn ansah, und während sie seine Blicke erwiderte, spürte sie, dass er sie nicht nur erkannt, sondern sie auch nie vergessen hatte – ein kleiner Junge, dem sie vor vielen Jahren versprochen hatte, ihn unter einem Regenbogen wiederzusehen.
»Sanchia, komm, das musst du dir ansehen!« Die Begeisterung brachte Marco dazu, von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen, obwohl er sich in den letzten Wochen reichlich Mühe gegeben hatte, sich wie ein junger Studiosus zu benehmen. Der neue Hauslehrer, ein wandelndes Nachschlagewerk in allen Aspekten des Wissens und der Gelehrsamkeit, war sein Vorbild, und er war auch derjenige, der Marco zu platonischer Gründlichkeit und Gelassenheit anhielt.
Sanchia lächelte, während er ihre Hand nahm und sie hinter sich herzog, hinüber zum Studierzimmer. Wenn ihn etwas mitriss, war es regelmäßig um seine Haltung geschehen. Das konnte ebenso gut eine mathematische Formel sein wie ein seltsamer Käfer, den er im Wasserkeller gefunden hatte, oder ein besonders schmackhaftes Gebäckstück, das Eleonora mitbrachte. Dann wurde aus dem jungen Gelehrten in Windeseile wieder ein fröhliches Kind.
»Was bringt dich denn diesmal so außer Rand und Band?«, fragte sie gutmütig. »He, nicht so schnell, junger Mann! Denk dran, dass ich schwer zu tragen habe!«
Ungeduldig passte er seine Schritte den ihren an. Sie folgte ihm und kam sich dabei vor wie eine riesige, watschelnde Ente, den schweren Leib nach vorn geschoben, das Kreuz durchgedrückt und die Füße in vorsichtigen Schritten nach außen gedreht. Sie wusste, dass ihr Gang sich nicht von dem anderer Frauen unterschied, die kurz vor der Niederkunft standen, doch ihre eigene Unbeholfenheit Tag für Tag so hautnah zu spüren, zerrte an ihren Nerven. Sie wünschte nur, es wäre bald vorbei. Nach ihren Berechnungen hätte es schon vor drei Tagen so weit sein sollen, doch Maddalena hatte ihr bei der letzten Untersuchung zu verstehen gegeben, dass sie sich womöglich ein wenig verzählt haben könnte und dass es vielleicht noch eine Woche dauern würde.
»Da ist es!« Mit großer Gebärde deutete Marco auf den Zeichentisch, wo er das neue Kunstwerk ausgerollt hatte, das heute Morgen von einem Kurier aus dem Fondaco dei Tedeschi hergebracht worden war. »Ist es nicht einfach unglaublich?« Das Blut war ihm vor lauter Aufregung in den Kopf gestiegen und schimmerte rot in seinen Ohren und Wangen, und das Blau seiner Augen funkelte mit derselben Eindringlichkeit wie bei seinem Vater.
Sanchia bekam immer noch Magendrücken, wenn sie an Francesco dachte. Er war seit seinem letzten und einzigen Besuch hier nicht mehr aufgetaucht, und kein Mensch wusste, wo er war. Sie unterdrückte die Gedanken an den Mann, dem sie am liebsten nie begegnet wäre, und trat näher an den Zeichentisch.
»Das ist wirklich … Es ist wundervoll!«, rief sie mit spontaner Begeisterung aus.
Das war es tatsächlich. Eine große aus sechs Einzelteilen bestehende Holzschnittkarte, fein gezeichnet und liebevoll illustriert, die aus der Vogelperspektive eine große, fischförmige Stadt darstellte – Venedig.
Beeindruckt betrachtete Sanchia das Meisterwerk. Marco hatte über Umwege davon gehört – sein Hauslehrer hatte ihm davon erzählt, der
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