Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
außerstande war, ihre Gefühle im Zaum zu halten.
Sie hatte ihn richtig eingeschätzt. Als der Gondoliere das Boot an der Fondamenta vertäute, sagte er wie ungefähr in Richtung des ersten Stocks: »Ich habe hier doch eben noch eine Frau um Hilfe schreien hören. Was sie wohl hatte?«
»Aber das war doch nur Eure Gattin, die Euch vermisst hat«, sagte der Gondoliere in aller Arglosigkeit.
Sanchia hörte unten vorm Haus jemanden prusten, vermutlich Tsing, der seinen Dienst lieber im Freien versah als im Haus. Er wechselte sich mit Ercole ab, oder beide hielten gemeinsam Wache, je nachdem wie es ihnen gerade gefiel. Aber mindestens einer der beiden ließ den Palazzo niemals aus den Augen.
Caterina mochte seit dem Sturz ans Haus gefesselt und vom Wahnsinn umfangen sein, aber es war nicht auszuschließen, dass sie ihre klaren Momente hatte, und solange sie lebte, würde Sanchia dafür sorgen, dass sie und die Ihren nicht ungeschützt waren.
Außerdem kamen keine Speisen oder Getränke ins Haus, die nicht eine Person ihres Vertrauens eigenhändig vom Markt geholt hatte.
Lorenzo hatte es aufgegeben, sich darüber zu mokieren.
Sanchia kicherte, als er zu ihr hochschaute und dabei die Hand über die Augen legte, weil die Sonne ihn blendete. Der Atem kondensierte in Wolken vor seinem Mund, und durch den weißen Nebel hindurch sah sie seine Zähne blitzen. »Tatsächlich, meine Frau. Na so was. Und ich hätte schwören können, dass hier eine Dame in Not ist.«
Gelenkig sprang er an Land, und als sie sah, wie leichtfüßig er zum Hauseingang lief, schlug ihr Herz schneller. Sein Bein war vollständig verheilt, so wie sie es vorhergesagt hatte, und es hatte kein Jahr gedauert, sondern nur ein Viertel davon. Manchmal, bei plötzlichen Wetterumschwüngen, hatte er noch Schmerzen, aber er hatte keine Gehbehinderung zurückbehalten. Er trainierte das Bein seit mehreren Wochen täglich mit Dehn- und Streckübungen und hatte fast seine alte Beweglichkeit zurückgewonnen.
Die Narbe war noch ein wenig wulstig und sah inmitten seiner dunklen Behaarung aus wie ein großes Feuermal, doch mit der Zeit würde sie verblassen und glattem, silbrigem Gewebe Platz machen.
Sie hörte sein Lachen im Treppenaufgang und Marcos aufgeregte Stimme, und dann setzte Füßegetrappel ein, als die beiden im Eilschritt zum Studierzimmer gingen.
Durch die offenen Fenster waren Lorenzos begeisterte Ausrufe zu hören, und Sanchia schloss die Augen, weil sie mit einem Mal das Gefühl hatte, so viel Glück nicht zu verdienen. Er liebte den Jungen mit derselben Inbrunst wie sie, es war, als hätte er ihn schon immer gekannt. Wenn sie die beiden nebeneinander sah, stockte ihr oft der Atem, weil sie einander so sehr glichen. Niemand konnte übersehen, dass sie von einem Blut waren, während sie selbst ihre eigene hellhäutige und silberblonde Erscheinung oft kritisch vor dem Spiegel begutachtete und sich fragte, wieso sie, die doch Marcos Halbschwester war, ihm nicht annähernd so ähnlich sah wie Lorenzo, der nur sein Cousin war. Aber im Grunde war das nicht weiter ungewöhnlich, es geschah sehr oft, dass Menschen ihren eigenen Geschwistern weniger glichen als etwa ihren Eltern. Manchmal war es auch umgekehrt; Geschwister ähnelten einander, aber ihren Eltern kein bisschen, oder sie sahen nur einem Elternteil ähnlich, dem anderen jedoch nicht die Spur. Sie selbst sah exakt so aus wie ihre leibliche Mutter, wie sie von Pasquale wusste.
»Du bist ihr so ähnlich, dass es schon unheimlich ist«, hatte er gesagt. »Wenn du wissen willst, wie sie ausgesehen hat – schau in einen Spiegel.«
Bei Marco schien es sich nicht anders zu verhalten. Er hatte zwar alles von seinem Vater, aber so gut wie nichts von Giulia, obwohl diese doch mit ihrem kastanienroten Haar, dem Porzellanteint und den grünen Augen von sehr einprägsamem Äußeren gewesen war.
Ob sie wohl noch lebte? Und wenn nicht – wer hatte sich um sie gekümmert in ihren letzten Tagen und Stunden? Wer hatte sie zu Grabe getragen, und wo?
Sanchia verdrängte den Gedanken sofort. Fröstelnd schlang sie die Arme um den Oberkörper und schloss dann rasch das Fenster, bevor es noch kälter im Zimmer werden konnte. Sie schürte das Feuer, das im Kamin brannte, und legte einige Holzscheite nach. Um den Geruch nach Ruß und Rauch abzumildern, warf sie eine Hand voll duftender Kräuter ins Feuer.
In sich versunken schaute sie anschließend in die Flammen, beide Hände auf den schweren Leib gelegt.
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