Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
über die Treppe nach unten. Tsing, der ihnen gefolgt war, fragte Sanchia draußen vor dem Haus, ob sie ihn entbehren könne, er wollte nach Ercole sehen.
Sanchia entließ ihn für die nächsten Stunden, bat ihn aber, später wiederzukommen, um ihr zu berichten, wie es dem Sienesen ging.
Lorenzo schlief unterdessen wieder ein, doch die winzige Falte, die sich über seiner Nasenwurzel eingegraben hatte, wollte nicht weichen. Noch im Traum schien er widersprechen zu wollen, weil sie ihn von hier fortbrachte.
Die Männer trugen ihn zur Fondamenta und luden ihn vorsichtig wie einen Korb voller roher Eier auf einem breiten Ruderboot ab. Alles funktionierte reibungslos, auch die anschließende Fahrt über die Kanäle.
Sanchia war sich der unruhigen Blicke bewusst, mit denen Girolamo sie bedachte.
»Er war wieder da«, sagte sie schließlich leise. »Ambrosio.«
Er hielt nicht mit Rudern inne, doch seine Augen verengten sich, und Sanchia spürte, welche Wut in ihm schwelte.
Sie warf einen Seitenblick auf den Träger, der stoisch auf der Ruderbank hockte und ins Kielwasser des Bootes starrte.
»Ich erzähle dir nachher alles«, versprach sie.
Ein Wassertropfen traf sie an der Nase, und beunruhigt schaute sie zum Himmel auf. Es hatte sich zugezogen, und die Wolken, die sich über ihr zusammenballten, kündeten nahende Regenfälle an. Den ganzen August über war es kochend heiß in der Lagune gewesen, doch schon in den letzten Tagen hatte es den einen oder anderen Schauer gegeben.
Als Girolamo den Kahn um die nächste Kanalbiegung steuerte, war zu sehen, dass sich ungefähr fünfzig Schritt voraus ein Hindernis auftürmte: Eine Brücke war eingebrochen. Dergleichen kam häufig vor, denn die weitaus meisten Brücken in Venedig waren aus Holz und verrotteten entsprechend schnell. Ein halbes Dutzend Arbeiter war bereits damit beschäftigt, von Booten aus die Planken aus dem Wasser zu bergen und die geborstenen Stege, die noch stehen geblieben waren, mit Axthieben zu entfernen.
Girolamo wendete den Sàndolo und ruderte in südlicher Richtung weiter, um über den Canalezzo nach Cannaregio hineinzufahren. Es war ein Umweg von etwas mehr als einer halben Stunde, und da Lorenzo fest schlief, wäre es nicht weiter schlimm gewesen, wenn es nicht ausgerechnet in diesem Moment angefangen hätte, zu regnen.
Doch auch für dieses Problem fand sich rasch eine Lösung, denn das zusammengerollte Segel eignete sich mit seiner gewachsten Oberfläche vorzüglich als Regenschutz. Der Lastenträger half Sanchia eilig dabei, es als Plane über Lorenzos Körper zu breiten, und so konnten sie den Regenguss unbesorgt über sich ergehen lassen.
Das Boot glitt am Dogenpalast vorbei, und rechter Hand tauchte die Piazetta auf, wo eine für diese Tageszeit ungewöhnliche Betriebsamkeit herrschte.
Sanchia erkannte auch sofort den Grund dafür: Es fand eine Hinrichtung statt.
Sie erinnerte sich mit bestürzender Klarheit an jenen Tag vor vielen Jahren, als sie mit ihrem Vater und Pasquale zum ersten Mal nach Venedig gekommen war. Damals war ein Mann zwischen den Säulen geköpft worden, und heute sollte anscheinend dasselbe geschehen.
Zu ihrem Entsetzen war jedoch der Delinquent, der kurz darauf von zwei Wachleuten über den Platz geschubst wurde, kein Mann, sondern eine Frau.
Ihr Gesicht war dem Meer zugewandt, und Sanchia sah, dass es von Blutergüssen übersät war. Beide Augen waren zugeschwollen, die Lippen blutverkrustet. Anscheinend hatte man sie während der Haft, die dem Urteil vorangegangen war, nicht geschont. Die Art, wie sie ihre Arme hielt, ließ zudem darauf schließen, dass man sie dem Strappado unterzogen hatte.
Was sie wohl Furchtbares getan hatte, um hier vor einem großen Publikum den Tod zu finden? In aller Regel wurden Todesurteile nicht auf der Piazetta, sondern im Hof des Dogenpalastes oder sogar heimlich des Nachts in den Gefängniszellen vollstreckt. Die Öffentlichkeit ließ man nur teilhaben, wenn zugleich ein Exempel statuiert werden sollte, weil die Scheußlichkeit der zu bestrafenden Missetat es erforderte.
»Das ist sie«, sagte der Träger in verächtlichem Ton und spuckte ins Wasser.
»Wer?«, fragte Sanchia.
»Ihr Name ist Rara de Jadra. Sie hat kleine Mädchen verkauft. In ihrem Haus, auf der Straße, überall. Jeder, der genug Geld hatte, konnte ihre zarten Angeli haben. Für die Sodomie, für Schläge, zum Umbringen. Alles nur eine Sache der passenden Bezahlung.«
Ein Priester, der das
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