Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
in denen die Zuneigung zu diesem Kind so heftig in ihm aufwallte, dass es ihm widerstrebte, den Jungen auch nur für einen Nachmittag allein zu lassen. Er unterstützte in allen Punkten bereitwillig Sanchias Bestrebungen, das Haus niemals unbewacht zu lassen, auch wenn er andere Gründe dafür hatte als sie. Sanchia hatte ihm anvertraut, dass sie sich manchmal davor fürchtete, Giulia könne heimlich zurückkommen – sofern sie noch lebte – und ihr den Jungen ebenso eilig wieder wegnehmen, wie sie ihn hergebracht hatte. Dazu kam ihre Sorge, Caterina könnte es immer noch irgendwie schaffen, ihn aus dem Weg zu räumen.
Lorenzos Ängste waren dagegen eher diffuser Art, wie die Ahnung einer künftigen Bedrohung, von der er nicht wusste, woran er sie festmachen sollte.
Für die Fahrt nach San Lorenzo nahmen sie ihre eigene Gondel. Der Ruderknecht lenkte sie schweigend und mit geübtem Schwung durch das Gewirr der Kanäle, während Sagredo ihnen in seinem behäbigeren, weniger schnittigen Gefährt folgte. Der Obsthändler ruderte selbst und fiel daher mit der Zeit zurück.
»Sollen wir langsamer fahren, damit wir gleichzeitig ankommen?«, fragte Lorenzo Sanchia.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte so schnell wie möglich zu ihr.«
Nebel war aufgezogen und hatte die Sonne zum Verschwinden gebracht. Eine diesige Kälte zog über die Kanäle und drang unter ihre Kleidung, bis sie feucht und klamm auf der Haut lag. Lorenzo zog Sanchia unter dem schützenden Verdeck der Felze in seine Arme und wärmte sie, während sie beide ihren trüben Gedanken nachhingen.
Girolamo erschien an der Anlegestelle, als sie ankamen. Er hob Sanchia an Land, wie er es schon so häufig getan hatte. Vorsichtig, als hielte er feinstes Kristallglas in den Händen, setzte er sie auf der Fondamenta ab.
Er schien bekümmert, vermutlich wusste er, wie es um Annunziata stand. Wie alle Bewohner von San Lorenzo hing er an der Äbtissin, als wäre sie Teil seiner Familie.
Sanchia legte ihm die Hand auf den Arm. »Girolamo, für den Fall … Ich meine, dass die Verhältnisse sich derart ändern sollten, dass deine Dienste hier im Kloster nicht mehr benötigt werden, findest du bei mir immer ein Auskommen. Ich möchte, dass du das weißt.«
Der stumme Riese nickte mit abgewandtem Gesicht. Während sie durch das Tor schritten, nahm Lorenzo Sanchias Arm.
»Warum glaubst du, dass er nicht hierbleiben wird?«, fragte er sie.
»Annunziata war diejenige, die ihn damals eingestellt hat. Er ist ein Mann, das darf man nicht vergessen. Den Kirchenoberen ist er schon lange ein Dorn im Auge. Über kurz oder lang wird sich jemand mit der Frage beschäftigen, ob es statthaft ist, dass er den Wächterdienst in einem Frauenkloster versieht und zugleich seine Bleibe innerhalb der Klostermauern hat. Und dieser Jemand wird schnell zu der Schlussfolgerung kommen, dass es unschicklich ist.«
»Und was ist mit dem Stallknecht?«
»Moses?« Sanchia zuckte die Achseln. »Moses hat nicht mehr Verstand als ein kleines Kind. Er ist ein kräftiger Arbeiter und ein guter Ruderer, aber jeder weiß, dass er ein Tölpel ist. Er zählt nicht.«
Als hätten sie ihn durch ihre Unterhaltung herbeigerufen, tauchte er hinter den Stallungen auf, verdreckt und abgerissen wie eh und je. Mit eigenartigen Seitwärtsschritten kam er näher, wie eine schleichende Krabbe, die Augen gesenkt und unaufhörlich vor sich hinbrabbelnd. Zwischendurch schaute er kurz hoch, starrte sie verstohlen an und blickte dann rasch wieder zur Seite.
Schließlich hatte er sie erreicht und lief in ihrer unmittelbaren Nähe hin und her, kräftigen Stallgeruch um sich herum verbreitend.
»Ich wollte es ihm nicht sagen«, murmelte er. »Ganz bestimmt nicht. Ich hab gesagt, ich weiß es nicht. Zweimal.« Er hob die Finger und betrachtete sie, hob erst einen, dann zwei und schließlich drei. »Nein, sogar drei Mal. Aber er hat gesagt, ich soll scharf überlegen und gottgefällig sein und die Wahrheit sagen.« Er verzog weinerlich das stumpfe Mondgesicht. »Ich möchte doch gottgefällig sein!«
»Natürlich willst du das«, sagte Sanchia beruhigend. Sie versuchte, die aufkommende Beklommenheit zu unterdrücken und bemühte sich um einen gelassenen Tonfall. »Von wem sprichst du, Moses? Wer hat dir gesagt, dass du gottgefällig sein sollst?«
»Er.«
»Wer?«, fragte Sanchia, obwohl sie es bereits zu wissen glaubte.
Moses riss die Augen auf, bis sie hervorquollen, und gleichzeitig schob er das Kinn nach
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