Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
keine Antwort.
Sie zog ihren Samtumhang fester um sich und stützte die Hand ins Kreuz, um die plötzliche Schwere auszugleichen, die ihren Bauch nach unten zu drücken schien.
»Alles in Ordnung?«, fragte Lorenzo besorgt.
Sie nickte. »Lass uns gehen. Sicher wartet sie schon auf uns.«
Die Nonne, die sie in den Gemächern der Äbtissin empfing, war in Tränen aufgelöst.
»Sie hat nach Euch gerufen«, sagte sie zu Sagredo.
Er erschrak. »Ist sie …«
»Nein, sie schläft. Aber mir scheint, sie wird aus diesem Schlaf nicht mehr erwachen.«
Sanchia betrachtete die ältere Frau näher und erkannte plötzlich in ihr eine der Gefährtinnen, die vor vielen Jahren zusammen mit Annunziata, Sagredo und diversen anderen Gästen im Besucherzimmer des Klosters gefeiert und musiziert hatte.
Alles wird zu Vergangenheit, dachte sie plötzlich wie betäubt. Wie konnte das Leben so schnell vorbei sein? Die Zeit verging nur scheinbar langsam; nach fast zwanzig Jahren zeigte der Blick zurück gnadenlos die Spanne, die verstrichen war.
Hier war eine alte Frau, die um eine gute Freundin weinte. Tod und Trauer verbanden sich zu einer Einheit und symbolisierten wie nichts anderes auf der Welt das Ende des Lebens. Frohsinn, Freundschaft, Familie – nichts davon vermochte diesen einen Augenblick zu überdauern, der den Schlusspunkt markierte. Was blieb, war nur die Erinnerung, und wem konnte das genügen?
Mir nicht, dachte sie in hilfloser Wut, während sie zu ihrem Mann aufschaute. Es würde ihr niemals genügen! Panik erfasste sie. Aber was, wenn es genügen musste? Wenn sonst nichts mehr blieb? Wurden dann die Erinnerungen nicht zu dem kostbarsten Gut, das man sich bewahren konnte?
Lorenzo drückte beruhigend ihre Hand, doch ihre Gedanken hatten sich verselbstständigt.
Wie würde sie diese Welt verlassen, wenn sie irgendwann gehen musste? Wer würde sich ihrer erinnern? Würden Freunde um sie weinen, würde jemand, der sie liebte, unglücklich sein?
Der Gedanke war ihr schrecklich. Aber noch schrecklicher war es, selbst diejenige zu sein, die um die anderen weinen musste, falls diese vorher abberufen wurden.
Unter ihren Rippen ballte sich ein harter Knoten zusammen, und tief unten in ihrem Kreuz wuchs ein drohender Schmerz.
Noch nicht, beschwor sie sich selbst und das Kind in ihrem Leib.
Die Nonne führte sie in das Schlafgemach der Äbtissin. Vor dem Fenster und neben dem Bett brannten Kerzen, deren Licht sich mit dem rötlichen Schein der untergehenden Sonne mischte. Zwei glimmende Kohlenbecken sorgten für Wärme, und auch im Kamin flackerte ein Feuer.
Pater Alvise, der betend vor dem kleinen Marienaltar stand, wandte sich zu ihnen um und neigte grüßend den Kopf. »Sie hatte nach Euch gefragt, bevor sie einschlief, mein Kind.«
Sanchia nickte krampfhaft, und während sich der greise Priester wieder in sein Rosenkranzgebet vertiefte, eilte Sanchia zum Bett. Sie schlug den Vorhang zur Seite und prallte entsetzt zurück, denn im ersten Augenblick war sie davon überzeugt, sich einer Toten gegenüberzusehen. Doch Annunziata lebte noch. Sie war wach und schaute Sanchia mit weit aufgerissenen Augen entgegen.
»Du bist gekommen, mein Kind.« Die blutleeren Lippen bewegten sich kaum, und das Flüstern war mehr zu ahnen als zu hören.
Sanchia beugte sich zu ihr und strich ihr über den Kopf. »Ja, ich bin da.«
»Ich möchte dir auf Wiedersehen sagen.«
Sanchia nickte und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Habt Ihr Schmerzen?«
»Ein bisschen. Sie werden aber gleich aufhören.«
Sanchia hielt Annunziatas Hand und bemühte sich, nicht zu weinen, doch sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Tränen tropften auf das weiße Hemd der Nonne und benetzten die blau geäderte Hand, die sie umklammerte. Sie schloss die Augen und dachte zurück, erinnerte sich an die kühne Frau mit dem Messer in der Hand, die mit dem wilden Blick einer rachsüchtigen Göttin das Kind beschützt hatte, dessen Leben ihr anvertraut war. Und an die Zeit davor, als diese Frau mit offenem Haar und lose gegürtetem Gewand fröhliche Nächte im Kreis von Freunden verbracht hatte.
Das war das Bild, das sie in Erinnerung behalten wollte, und sie würde dafür beten, dass es ihr gelang!
Zögernd senkte sie den Blick. Das Gesicht der Sterbenden war bleich und spitz, als hätte der Tod bereits seine Hand ausgestreckt und ihre Stirn berührt. Sanchia registrierte vage, wie sehr Annunziata in diesen letzten Momenten ihres Lebens ihrer
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