Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
das Kind gesund auf der Welt war und alles wieder seinen gewohnten Gang nahm, könnte er – zumindest in der Theorie – genau wie vor seiner Verletzung seine Reisen unternehmen und an den Höfen der befreundeten und verfeindeten Mächte Europas Verhandlungen führen. Doch er wusste bereits jetzt, dass ihn möglicherweise etwas daran hindern würde. Wenn es nicht die Angst war, sie zu verlieren, dann vielleicht die Angst um sein Kind. Oder um Marco, den er lieb gewonnen hatte wie einen Sohn. Der Vorfall im letzten August hatte ihm gezeigt, wie dünn der Faden war, der sein Lebensglück umspann. Es gab mehr Unwägbarkeiten, als er früher hatte wahrhaben wollen, und erst im Laufe des letzen Vierteljahres war ihm klar geworden, wie viele es wirklich waren.
Er half seiner Frau, die Schnürung des Kleides zu schließen und die feinen wollenen Strümpfe anzulegen.
»Ich richte noch rasch mein Haar her«, sagte sie.
»Mach dich nur in Ruhe fertig. Ich warte draußen.«
Während Sanchia ihre Toilette beendete, ging er ruhelos vor ihrer Kammer auf und ab. Durch die offene Tür des gegenüberliegenden Zimmers sah er Marco in einem Buch blättern, und aus einer spontanen Regung heraus eilte er zu ihm.
»Ist alles in Ordnung?«
Marco blickte überrascht auf. »Ja, sicher. Und bei euch?«
»Wir müssen noch einmal weg, aber zur Nachtzeit sind wir wieder da.«
»Kann ich mitkommen?«
Lorenzo lächelte flüchtig bei dieser typischen Kinderfrage. Er selbst hatte sie sicher ein paar hundert Mal gestellt, als er in Marcos Alter gewesen war – meist seinem Onkel, wenn dieser zu einer seiner zahlreichen Reisen aufbrach.
»Dieser Besuch ist nichts, was dir gefallen würde.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es, weil ich auch mal neun war. Ich denke nicht, dass es dir zusagt, einer alten Frau beim Sterben zuzusehen. Mir hätte es auch nicht behagt, und sicher geht es dir nicht anders.«
Marcos Gesicht verschloss sich, und Lorenzo wusste, dass der Junge an seine Mutter dachte. Er hatte nicht viel über sie erzählt, und das Wenige, was Sanchia ihm hatte entlocken können, war so herzzerreißend traurig gewesen, dass sie es bald aufgegeben hatten, ihn nach Giulias Befinden und Plänen auszuhorchen. Sie gingen einfach davon aus, dass sie mittlerweile nicht mehr lebte. Lorenzo hörte den Jungen manchmal in seinem Zimmer schluchzen, und wenn er dann zu ihm ging, um ihn zu trösten, setzte Marco eine unbeteiligte Miene auf, wie ein Kartenspieler, der sich nicht ins Blatt schauen lassen wollte. Die Tränenspuren auf seinen Wangen straften seine scheinbare Gelassenheit Lügen, doch Lorenzo überging beides, die Trauer und das Bemühen des Jungen, sie zu verbergen. Er tat das, was auch ihm immer am besten geholfen hatte, wenn er in Kindertagen unglücklich gewesen war: Er sorgte für Ablenkung. Die neue Taubenzucht auf dem Dach, ein Buch über wilde Tiere, eine Stunde Kampfsportunterricht bei Tsing – es gab immer Möglichkeiten, einen normalen, gesunden Jungen auf andere Gedanken zu bringen.
»Was liest du da? Das Buch, das ich dir letzte Woche mitgebracht habe, von deinem Namensvetter?«
Marco nickte und grinste verschmitzt. Seine gute Laune war auf einen Schlag wiederhergestellt; mit dem Buch hatte Lorenzo einen guten Griff getan. Es schilderte das Leben eines berühmten Venezianers, eines viel gereisten Mannes namens Marco Polo.
Lorenzo wusste, dass Polo vor rund hundert Jahren tatsächlich gelebt hatte, aber es war schwer zu sagen, ob die Berichte, die er hinterlassen hatte, tatsächlich die wahren Begebenheiten schilderten, die ihm auf seinen Reisen widerfahren waren, oder ob sie eher den blühenden Auswüchsen seiner Fantasie entstammten. Doch wie bei jeder guten Erzählung kam es nicht darauf an, ob ihr Tatsachen zugrunde lagen, sondern nur darauf, dass man sich unterhalten fühlte. Und Marco Polo fabulierte offenbar ganz vorzüglich.
Er selbst konnte in Anbetracht der sich ansammelnden kostspieligen Druckwerke wohl von Glück sagen, dass die Compagnia di Caloprini nach wie vor gute Handelsgeschäfte tätigte und dass Giovanni die Geldeinlagen der Familie zum größten Teil rechtzeitig vor dem Zusammenbruch der Banken im letzten Jahr hatte retten können.
Andere hatten nicht so viel Glück gehabt; den Geschäften der Grimanis beispielsweise hatte die um sich greifende Finanzkrise den Todesstoß versetzt. Enrico Grimani war seit zwei Monaten bankrott. Das zu erfahren, hatte Lorenzo in Hochstimmung
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