Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
vergessen, ihn zur Begrüßung anzulächeln und freundliche Worte zu ihm zu sagen. Lorenzo wäre am liebsten zurück aufs Dach geflohen.
»Lorenzo!« Francesco hatte sich zu ihm umgedreht und eilte mit großen Schritten auf ihn zu. »Lass dich umarmen, du Bengel!« Er drückte Lorenzo an sich. »Meine Güte, du fühlst dich kalt an! Rufio hat nicht übertrieben, was? Stundenlanges Luftschnappen auf dem Dach, und das im Februar!«
Auch er lächelte, aber mit einer so unverfälschten Herzlichkeit, dass Lorenzo Wärme in sich aufsteigen fühlte.
»Komm«, sagte Francesco begeistert. »Lass dir zeigen, wohin ich als Nächstes fahre!« Er zog seinen Neffen zum Kartentisch, wo ein besonders kunstvoll bemaltes Pergament ausgerollt war.
»Habe ich mir machen lassen«, sagte er zufrieden, als er Lorenzos anerkennenden Blick bemerkte. »Du hast ein Auge für solche Sachen, stimmt’s? Es ist ein Druck, keine Zeichnung. Viele gibt es davon noch nicht, aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass die gezeichneten Karten bald der Vergangenheit angehören werden. Dasselbe gilt für die handgeschriebenen Bücher.«
»Unsinn«, sagte sein Bruder mit mildem Amüsement. »Die Buchmalerei ist eine Kunst. Sie wird niemals aussterben, nicht durch so ein profanes Handwerk wie den Druck.«
»Wir sprechen uns in zehn Jahren wieder.« An Lorenzo gewandt, fuhr Francesco fort. »Schau.« Er legte einen Finger auf die Karte. »Hier ist das Ziel meiner nächsten Reise.«
Lorenzo suchte rasch die Orientierungspunkte: die Lagune, die vertraute Stiefelform, das adriatische Meer, die Levante.
»Syrien«, sagte er.
»Ganz recht. Nächste Woche schon. Wir fahren in einem Konvoi, von dem wir allein drei Schiffe stellen. Es soll der bisher größte Handel der Compagnia im Osten werden. Ein letztes Mal, denke ich.«
»Warum ein letztes Mal?«
»Dein Onkel vertritt die seltsame These, dass der Galeerenhandel in der Levante seinem Niedergang entgegenstrebt.« Giovanni sagte es in leicht spöttischem Tonfall, als würde er über ein naseweises Kind sprechen.
Francesco zuckte nur die Achseln. »Du musst es ja nicht glauben.«
»Was bringt dich zu dieser Annahme?«, fragte Lorenzo. »Ist es wegen des Osmanischen Reichs?« In ganz Venedig gab es wohl kaum einen Menschen, der nicht bis in alle Einzelheiten von den Grausamkeiten der Muselmanen erfahren hatte. Der letzte Krieg war noch allzu gegenwärtig. Es hieß, dass sie ihre Feinde lebendig häuteten und in Stücke schnitten.
»Sie sind nur ein Teil des Ganzen«, versetzte Francesco. »Wir sind umgeben von Feinden, die wir reihum bekriegen, um unsere Handelswege frei zu halten. Eines Tages werden sie sich zusammenschließen und uns ins Meer treiben.«
»Dort sind wir doch zu Hause«, wandte Caterina ein, die geschwungenen Lippen zu einem Schmollmund verzogen. »Die Löwenrepublik ist ein Land der Seefahrer!« Ihr dunkles, mit honigfarbenen Strähnen durchwirktes Haar war zurückgekämmt, bis auf ein paar mit Bedacht hervorgezupfte Lockenkringel, die ihr in die Schläfen fielen. Ihre Haut schimmerte wie Sahne und war völlig frei von Falten oder sonstigen Alterserscheinungen.
Wie immer mochte Lorenzo kaum glauben, dass diese Frau seine Mutter war. Sie war letzte Woche fünfunddreißig Jahre alt geworden, schien aber kaum älter zu wirken als alle seine nahen und entfernteren Cousinen im heiratsfähigen Alter, die ihm seit einigen Monaten in einer endlosen Heiratsparade vorgeführt wurden.
»Wir sind auf dem Meer zu Hause«, bestätigte Francesco. »Aber was nützt es uns, wenn unsere Schiffe kein Ziel mehr finden? Ohne den Handel sind wir die bedeutungsloseste Nation des Erdkreises.«
»Was kann man dagegen tun?«, wollte Lorenzo wissen.
»Diplomatie. Bessere, schnellere, stärker bewaffnete Schiffe bauen. Frühzeitig neue Märkte erschließen. Die Produktion eigener Güter ausbauen. Salz, Zucker, Baumwolle, Weizen.«
»Glas und Seide«, ergänzte Caterina eifrig. »Vergiss nicht das Schönste!«
»In einem Punkt hast du Recht«, pflichtete Giovanni seinem Bruder bei. »Früher da zu sein als andere – das bringt die meisten Vorteile. Nur mit Schnelligkeit und Geschick lässt sich im Galeerenhandel noch Geld verdienen. Der gute Kaufmann von morgen weiß heute schon, was die Märkte übermorgen brauchen.«
Francesco hob die Brauen. »Womit wir uns wieder einig wären, lieber Bruder. Nächstes Jahr werden unsere Galeeren nach Westen segeln, mit Erzeugnissen, die aus der Serenissima stammen.
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