Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Nächstes, so hatte Rufio gemeint, könnte er mit beweglichen Schlägen experimentieren. Er habe schon häufig von Seefahrern gehört, dass dergleichen bei gut trainierten Tauben funktioniere.
Mittlerweile hatte Lorenzo jedoch seine Zweifel, ob das Ganze wirklich eine so gute Idee gewesen war. Hätte er gewusst, mit welch einer erstaunlichen Anzahl von Briefen seine Cousine ihn traktieren würde, hätte er das Taubenpärchen ganz sicher nicht herausgerückt. Erst recht nicht, wenn er auch nur im Entferntesten geahnt hätte, welchen Inhalt diese Briefe haben würden.
Doch seine Mutter war der Meinung gewesen, ein entzückenderes Abschiedsgeschenk sei gar nicht denkbar – so ihre Worte –, und sie sei es ihrer verstorbenen Schwester schuldig, wenigstens dies für deren Tochter zu tun. Ihren Worten nach hätte seine Cousine genauso gut in die Mongolei ziehen können statt in ein benachbartes Sestiere.
Frustriert betrachtete Lorenzo seine Taubenzucht durch das vergitterte Fenster des hölzernen Schlags. In perfekter Harmonie hockten sie nebeneinander, bläulich schimmernde, rötlich marmorierte oder mehrfarbige Vogelkörper, manche mit einem regenbogenartigen Brustgefieder, andere wiederum von schlichtem, felsartigem Grau. Das reinweiße Pärchen stach besonders ins Auge. Sie wurden immer zusammen aufgelassen und flogen die vertraute Strecke stets als das Gespann, das sie auch während der Nistzeiten bildeten. Bei ihrem Anblick hätte Lorenzo am liebsten vor hilfloser Wut den Käfig zerschlagen. Wie hatte er nur so dämlich sein können! Kein Wunder, dass Eleonora bei dem Geschenk auf dumme Gedanken gekommen war!
Eleonoras und Lorenzos gemeinsamer Großvater mütterlicherseits war reich wie Krösus und hätte seine Enkelin ohne Weiteres mit einer dieser horrenden Mitgiften ausstatten können, die heutzutage so manche Patrizierfamilie in den Ruin trieb. Doch der Alte dachte gar nicht daran. »Wozu denn?«, hatte er zu Caterina, Lorenzos Mutter gesagt. »Warum Geld zum Fenster hinauswerfen, wenn ich es genauso gut für mich selbst behalten kann? Ich habe mich für dich und deine Schwester fast um mein ganzes Hab und Gut gebracht und mein halbes Leben gebraucht, um nach diesen Mitgiften wieder reich zu werden. Und wofür? Dass eine von euch im Kindbett stirbt und ihr Mann sich aufhängt.« Der giftige Monolog des Alten war noch weitergegangen. Lorenzo hatte vom oberen Treppenabsatz aus jedes Wort verstanden. »Und was dich und Giovanni angeht, so hättest du auch besser den Schleier nehmen sollen. Wenn ich überhaupt noch mal größere Summen ausgebe, dann für zwei oder drei kräftige Sklavinnen, die mich und meinen elenden Rücken pflegen. Und das ist mein letztes Wort.«
Eleonora wurde von allen Verwandten gebührend bedauert. Dann ging man wieder zur Tagesordnung über.
Auch Lorenzo hatte nach ein paar nichtssagenden Antwortbriefen aufgehört, auf Eleonoras Botschaften einzugehen, doch das hatte prompt Ärger zur Folge gehabt. Über eine Cousine seines Großvaters väterlicherseits, die ebenfalls in San Lorenzo lebte, waren massive Beschwerden der Novizin bei seiner Mutter eingegangen. Caterina hatte daraufhin sofort ihren Sohn zu sich zitiert und ihn unter Tränen angefleht, doch seine arme, unter den Schleier gezwungene Cousine nicht zu schneiden. Er, Lorenzo, sei mitsamt seinen Tauben die einzige Verbindung des gequälten Geschöpfes zur Außenwelt, und es sei seine Christenpflicht und seine familiäre Verantwortung, sich um sie zu kümmern.
Was hätte er tun sollen? Natürlich hätte er einwenden können, dass es seiner Mutter und seinem Großvater jederzeit freigestanden hätte, selbst diese Aufgabe zu übernehmen. Seines Wissens gab es außerdem noch mindestens drei weitere Cousins und verheiratete Cousinen, die der ach so armen Eleonora Briefe schreiben oder sie im Kloster besuchen konnten. San Lorenzo hatte eine großzügige Besuchsregelung, und die Nonnen lebten keineswegs in Klausur.
Wieso ausgerechnet er auf diese Briefe antworten musste, blieb ihm ein Rätsel. Wahrscheinlich hockte sie schon seit dem frühen Morgen neben dem Schlag und wartete auf Antwort.
Die Dachklappe öffnete sich, und Rufio streckte seinen pechschwarzen Kopf ins Freie. »Du sitzt ja immer noch hier oben. Wird es dir nicht zu kalt?«
Lorenzo war bis auf die Knochen durchgefroren, aber es machte ihm nichts aus.
»Besser draußen als drinnen«, sagte er leichthin. Er musste Rufio nicht erläutern, was er damit meinte. Wenn
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