Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
das nicht gleich gesagt!« Lorenzo sprang auf und kam zur Luke.
Wenn sein Onkel zu Besuch kam, wurde die Stimmung im Haus gleich besser. »Ich dachte nicht, dass er schon von der Reise zurück ist«, sagte er, während er durch die Luke über die Leiter nach unten kletterte.
»Wie es aussieht, ist er schon fast wieder weg. Seine Schiffe laufen nächste Woche bereits aus. Ich durfte vorhin den Kartentisch mit ihm zusammen in den Portego schleppen, damit er allen die Route zeigen kann.«
Lorenzo hatte schon einen Fuß auf der Treppe, blieb dann aber abrupt stehen.
Dumpfe Schreie drangen aus einer Kammer am Ende des Ganges.
»Bei den Heiligen!«
»Ich habe heute schon zweimal nach ihm gesehen«, sagte Rufio beruhigend. »Es geht ihm gut.«
»Wie kann es ihm gut gehen, wenn er so schreit!«
»Das hat bei ihm oft keinen besonderen Grund.«
»Kein Mensch stößt solche Schreie ohne Grund aus.«
Rufio wiegte den Kopf. »Es ist seine Art, sich lebendig zu fühlen.«
Lorenzo schaute zu der geschlossenen Kammertür, hinter der sein Großvater im Bett lag, nicht mehr Kraft in den Gliedern und Verstand im Kopf als eine verwelkte Pflanze. »Du nennst das Leben?«
»Das Leben hat viele Gesichter. Niemand kennt sie alle, außer Allah. Und jetzt geh runter, ich kümmere mich um ihn.«
Seine Eltern saßen auf Lehnstühlen im Wohnraum, der vom Portego abging. Im Kaminofen flackerte ein Feuer. Das Licht der Flammen mischte sich mit den schräg einfallenden Sonnenstrahlen, die durch das bunte Glas der Fenster gebrochen und vervielfältigt wurden. Die Oberfläche des Terrazzobodens spiegelte das Farbenspiel und trug die Reflexe bis in den letzten Winkel des Raums. Flüchtig überlegte Lorenzo, dass der Glasbläser seine Sache wirklich gut gemacht hatte.
Francesco Caloprini stand über den Kartentisch gebeugt, eine ausgebreitete Landkarte studierend. Er sah frisch und lebendig aus, keine Spur mehr von dem Mann, der abwechselnd verkatert oder betrunken herumgestolpert war und das Tageslicht gescheut hatte wie der Teufel das Weihwasser. Sein Gesicht war glatt rasiert, sein Haar gepflegt. Er hielt nichts von dem Putz, mit dem manche adlige Kaufleute sich auftakelten. Seine Kleidung war unauffällig, aber von edler Qualität. Er war schlank und hielt sich gerade wie ein Jüngling.
Seit über einem Jahr trank Francesco Caloprini nicht mehr, hatte von einem Tag auf den anderen aufgehört, ohne dass jemand den Grund dafür kannte. Rufio hatte Lorenzo gegenüber erwähnt, dass Francesco nun wieder genauso sei wie früher, aber Lorenzo konnte sich an diese länger zurückliegenden guten Zeiten nur schwach erinnern. Das Bild des Säufers hatte das des Erfolgsmenschen zu gründlich verdrängt.
Doch das gehörte offenbar nun der Vergangenheit an, denn Francesco rührte keinen Tropfen mehr an, und seine Geschäfte liefen besser denn je. Hatte Lorenzos Vater in den Jahren davor die Handelsfahrten organisiert und oft persönlich geleitet, so war es mittlerweile wieder sein Onkel, der für die reibungslose Abwicklung der Schiffstransporte sorgte. Giovanni passte das ganz gut in den Kram, wie er selbst sagte. Er hatte sich seit dem letzten Jahr zunehmend mit der Politik befasst und war ein sicherer Kandidat für das nächste offene Amt eines Zehnerrats.
Es hätte Lorenzo auch verwundert, wenn sein Vater seine Position in der Compagnia ohne die Perspektive weiter reichender Macht aufgegeben hätte. Er zog weiterhin für die Firma die Fäden, nur an anderer Stelle, nämlich dort, wo er sich den größtmöglichen Nutzen davon versprach.
»Da bist du ja.« Caterina Caloprini schenkte ihrem Sohn ein strahlendes Lächeln, wie es ihm lange nicht zuteil geworden war. Unwillkürlich lächelte Lorenzo zurück, zuerst ein wenig zögernd, dann aufrichtig. Er meinte plötzlich, sich an Zeiten zu erinnern, in denen sie ihn geliebt hatte. Doch schon im nächsten Augenblick erlosch ihr Lächeln wie die Flamme einer Kerze, die vom Wind gestreift wird. Lorenzo erkannte, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Wieder einmal. Vermutlich hatte sie gelächelt, weil Francesco hier war, und sie hatte damit aufgehört, als sie merkte, dass er nicht hinschaute. Ihr Schwager war jemand, der nicht alle Tage erschien, folglich konnte Caterina die Macht ihrer Schönheit an ihm erproben, so wie bei allen, die ihr selten oder zum ersten Mal gegenübertraten.
»Mein Junge«, sagte Giovanni, ebenfalls lächelnd. Gelassen, höflich, distanziert. Nie würde sein Vater
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