Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
letzten Brief hatte er Eleonora davon berichtet, so wie er ihr überhaupt das meiste von allem, was er hier erlebte, erzählte.
Es war schon absurd. Sie war eine Person, mit der er im Grunde nichts zu tun haben wollte, und doch hatte das Schicksal sie und ihn auf eine Weise zusammengebracht, die zum Lachen hätte reizen können, wenn es ihn nicht jedes Mal so frustriert hätte, einen Brief von ihr zu lesen. Doch da es sonst niemanden gab, dem er hätte schreiben können, blieb nur sie als Empfänger seiner Botschaften. Und er als der ihre, denn niemand sonst hatte einen Taubenschlag, den die Vögel hätten anfliegen können. Natürlich hätte er ganz einfach aufhören können, ihr zu schreiben. Er hätte nur die weißen Tauben nicht mehr auflassen müssen.
Doch damit hätte er sich seiner einzigen Verbindung mit der Heimat beraubt und zugleich ein einzigartiges Experiment ohne Not beendet. Die Faszination, die Tauben aufsteigen und immer wieder sicher landen zu sehen, war weit stärker als etwaige Unannehmlichkeiten, die vom Inhalt der Briefe herrührten.
So nahm er notgedrungen ungefähr alle zwei Wochen eine neue Nachricht von ihr in Empfang. Er wusste immer schon vor dem Öffnen der winzigen Pergamentrolle, was drinstand. Es war stets dasselbe, und es war jedes Mal ermüdend.
Wen interessierte es schon, wie hell ihr Haar nach der letzten Behandlung geworden war und wie viele Eier sie in der letzten Woche stibitzt hatte, um ein neues Kuchenrezept auszuprobieren – das sie gleich anschließend in allen Einzelheiten wiedergab. Hätte er all diese Passagen aufmerksam gelesen und verinnerlicht, wäre er heute sicherlich der beste Zuckerbäcker diesseits des Mittelmeeres. Von den vielen Pastagerichten ganz zu schweigen. Zugegeben, ein oder zwei Mal war ihm bei der Beschreibung einer besonders gehaltvollen Sauce das Wasser im Mund zusammengelaufen, aber das lag bestimmt nur daran, dass es hier außer Hammel und zweifelhaft riechendem Fisch kaum etwas Handfestes zu essen gab.
Wenn sie nicht gerade vom Alltag des Klosters schrieb (»heute Morgen bin ich nicht zur Frühmesse gegangen, weil ich lieber in der Küche arbeiten wollte«), führte sie in dicht gedrängten Sätzen und ständigen Wiederholungen aus, wie sich ihrer beider künftiges Leben gestalten würde, sobald er erst wieder da wäre und sie hier rausholen würde. » …werden wir in einem großen Palazzo wohnen und die herrlichsten Feste geben, zu denen wir natürlich auch den Dogen und seine Dogaressa einladen. Kochen werde ich vielleicht selbst, aber dazu mein Haar unter einer Haube verbergen, damit es nicht riecht.« )
Sie schrieb in ordentlichen, spinnendünnen Buchstaben, die so klein waren, dass er fast eine Lupe gebraucht hätte, um sie entziffern zu können. Darüber hinaus machte sie so viele Fehler, dass er oft Mühe hatte, die Worte zu erkennen. Viel Platz stand ohnehin nicht zur Verfügung, mehr als ein schmales Blatt sollten die Tauben nicht tragen, was sie wusste und sehr genau beachtete – vermutlich weil sie Angst hatte, einer der Vögel oder gar beide könnten vom Gewicht der Briefe ins Meer gezogen werden, sodass es vorbei wäre mit ihrem Schriftwechsel. Mit ihr Briefe zu tauschen war nicht sehr erhellend, es sei denn, man erachtete den Vorgang des eigenen Schreibens als den wichtigeren Teil dieser merkwürdigen Korrespondenz.
Der Gerechtigkeit halber musste er einräumen, dass es ihr umgekehrt wohl ähnlich erging. Wahrscheinlich brachten seine Ausführungen über Leonardos Theorien und seine Beschreibungen von Beyrut oder über den Alltag des Kaufmannslebens sie zum Gähnen. Jedenfalls war sie bis jetzt mit keinem Wort darauf eingegangen, sondern hatte wieder nur von ihren Haaren und Kuchenrezepten erzählt.
Lediglich ihr letzter Brief hatte sich von den anderen unterschieden. Er war wesentlich emotionaler ausgefallen, weil mehrere Menschen sie in Wut versetzt hatten. Da war einmal ein Dominikanerpriester namens Ambrosio, der sich nicht entblödet hatte, ihr die Hühnerhaltung verbieten zu wollen. Er hatte sogar die Frechheit besessen, in ihren Truhen nach Eiern zu suchen. Voller Empörung hatte sie Lorenzo die Frage gestellt, wie um Himmels willen sie genug Eier für ihr Gebäck zusammenbekommen sollte, wenn sie nicht ihre eigenen Hühner halten durfte?
Die andere Person, die sich Eleonoras Zorn zugezogen hatte, war das Mädchen, mit dem sie die Kammer teilte.
» …erwischte ich die blonde Unschuld heute beim Lesen deines
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