Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
solches wahrgenommen. Ihrem Geplapper nach dieser Botschaft war nur zu entnehmen, wie sehr es sie bewegte, dass die vornehmen Damen an der levantinischen Küste ihren ganzen Körper von Kopf bis Fuß verschleiern mussten und dass manche dieser Frauen angeblich unter ihrem blickdichten Schleier der Hitze wegen unbekleidet waren – eine Information, die er in einem belanglosen Nebensatz erwähnt hatte. Sie hatte den ganzen Tag von nichts anderem geredet. Vermutlich hatte sie auch heute wieder nur die langweiligen Einzelheiten berichtet und die wirklich interessanten Teile der Botschaft gar nicht erst erwähnt.
Sanchia öffnete den Schlag und fütterte die Tauben. Sie gab ihnen Wasser und füllte ihren Napf mit einem Gemisch aus Erbsen, Bohnen, Wicken und verschiedenen Getreidekörnern. Sie schaute zu, wie die Vögel sich reckten und dann mit hackenden Bewegungen die feinen Köpfe über das Futter neigten.
Sie sah ihn vor sich, das Haar ungezähmt über den Ohren gelockt, sein Arbeitshemd viel zu weit, und in den Augen ein unstillbarer Hunger nach Dingen, die außerhalb seiner Welt lagen. Sie sah ihn wieder in die eingedeichte Baugrube steigen, inmitten der Flaschenzüge, die ihre Gewichte auf die Pfähle niedersausen ließen. Sie glaubte, den Gesang der Arbeiter wieder hören zu können, in dem Moment, als sie sich noch einmal zu ihm umgedreht hatte.
Sie fieberte darauf, seinen letzten Brief zu lesen.
Das Mädchen kam in das Zimmer, wie immer ohne ein Wort, das Tablett mit dem Essen in den Händen. Sie stellte es auf dem niedrigen Tisch neben dem Diwan ab und zog sich ebenso schweigend zurück, wie sie gekommen war. Kein Schleier verbarg ihr reizendes junges Gesicht, das stets von einem Lächeln erhellt wurde, wenn sie Lorenzos und Francescos Kammer betrat. Ihre Augen waren ebenso dunkel wie ihr Haar und dabei mandelförmig geschnitten, was ihr ein exotisches Aussehen verlieh, ebenso wie ihre Haut, die eine samtige Tönung hatte, wie von Zimt und Karamell. Lorenzos Herz klopfte jedes Mal schneller, wenn er sie sah, und zu seiner Beschämung wurde er bei ihrem Anblick erregt, obwohl sie nichts tat, um das herauszufordern.
Er hatte erfahren, dass sie Sula hieß und genau wie er selbst sechzehn Jahre alt war. Sie gehörte dem Betreiber der Herberge seit ihrem dritten Lebensjahr. Damals war sie mit einer Sklavenkarawane aus dem Osten gekommen.
Der Herbergswirt, ein Venezianer aus Dorsoduro, war vor Jahrzehnten mit einem Handelskonvoi hergekommen und geblieben.
»Sie konnte von Anfang an nicht sprechen«, hatte er Lorenzos Frage beantwortet. »Jemand hat ihr die Stimmbänder zerschnitten. Jenseits des Himalaya gibt es merkwürdige Länder und Sitten. Vielleicht war sie dort eine Haremssklavin.« Achselzuckend hatte er hinzugefügt: »Bedient Euch ihrer, wenn sie Euch will.«
Lorenzo hatte irgendetwas gestammelt, und Francesco hatte später amüsiert zu ihm gesagt: »Immerhin macht er es von ihrem Willen abhängig. Sie scheint ein gutes Leben bei ihm zu haben. Wenn du mich fragst: Nimm sie. Sie macht dir eindeutig schöne Augen.«
»Ihr seid so unruhig, junger Löwe«, murmelte Leonardo aus der gegenüberliegenden Ecke des Raums. Er hielt den Skizzenblock nachlässig auf den Knien und führte den Kohlestift mit gleichmäßigen Strichen über das Papier. In der vergangenen Woche hatte eine Karawane eine Lieferung von Reispapier mitgebracht, dessen Qualität den Künstler begeisterte, auch wenn es mit seiner Stimmung sonst nicht zum Besten stand.
Der Florentiner war offensichtlich nicht zufrieden mit der Zeichnung. Er nahm einen Zug aus seiner Wasserpfeife, drehte das Blatt herum und begann von vorn.
Leonardo war auf Zypern zu ihnen gestoßen. Er hatte sich bei ihnen eingeschifft, um mit hierher zu reisen, in der Hoffnung, die Protektion des Vizekönigs von Syrien zu gewinnen. Dies sei, so hatte er niedergeschlagen ausgeführt, ein verzweifelter Schritt gewesen, nachdem der Herzog von Mailand ihm zwar auf eine Empfehlung von Lorenzo de’ Medici den Auftrag für ein Reiterstandbild zugesagt hatte, dann aber seine Mittel lieber für kriegerische Auseinandersetzungen mit Venedig aufsparte.
»Gerade dafür hätte er mich haben können! Ich habe ihm angeboten, ihm den Sieg zu sichern!« Der Künstler hatte seine lange blonde Mähne zurückgeworfen und sich in Positur gestellt. »Ich habe es ihm sogar schriftlich gegeben! In neun Abschnitten habe ich meine Erfindungen in der Militärtechnik dargelegt!« Bescheidener
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