Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
letzten Briefes. Sie war wie immer stumm und verstockt, doch ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Ich ließ ein Donnerwetter auf sie niedergehen wie am Tag des Jüngsten Gerichts, doch sie rührte nicht einmal eine Wimper.«
An dieser Stelle strotzte der Brief derartig von Fehlern, dass Eleonoras seelischer Ausnahmezustand nicht zu übersehen war. Anscheinend hatte dieser Vertrauensbruch ihrer Zimmergenossin sie hart getroffen.
Erst beim Weiterlesen war Lorenzo klar geworden, dass es hier nicht um missbrauchtes Vertrauen, sondern um profane Eifersucht ging.
»Wenn sie nun glaubt, sich zwischen uns drängen zu können, so lache ich nur darüber und kratze ihr die Augen aus!«
Er selbst hatte bei diesem Satz ebenfalls ein Lachen nicht unterdrücken können. Diese armen Kinder! Im Kloster musste das Leben wirklich extrem öde sein, sonst ließe es nicht so viel Raum für solch krude Gedankenflüge.
Mittlerweile war es völlig dunkel geworden. Bei seiner Rückkehr zur Herberge erschienen ihm die Winkel des Hauses wie finstere Tiefen, aus denen geheimnisvolle Geräusche tönten. Hier raschelte es wie von einer vorbeihuschenden Maus, dort knisterte es, als schritte jemand über das ausgestreute Stroh. Es roch nach brennenden Gewürzen und dem Parfümöl, das Sula manchmal in die Lampen goss.
Hinten im Hof brannte ein Öllicht und versetzte die Schatten in unruhige Bewegung. Als Lorenzo die Stiege zu den Schlafräumen emporsteigen wollte, wuchs einer der Schatten und nahm eine vertraute Form an. Sula hatte offenbar auf ihn gewartet. Sie hatte die Flechten ihres Haares gelöst, das in langen Wellen wie flüssige Seide bis zu ihren Waden hing. Ein fragender Ausdruck stand in ihren Augen.
Lorenzo tat einen Schritt auf sie zu und wäre dabei fast über seine Füße gefallen.
Er spürte, wie ihm das Herz aus dem Hals hüpfen wollte, und in einer Geste, die er selbst als kindisch empfand, legte er eine Hand gegen seine Kehle, um das Rasen seines Pulses zu dämpfen.
Doch es war sinnlos, seine Aufregung wurde eher noch stärker, als Sula mit wenigen gleitenden Schritten näherkam und seine Hand nahm. Ihre Berührung traf Lorenzo wie ein Schlag. Er wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Ihr Atem roch sauber und frisch, als sie sich näherbeugte, um ihn sanft auf den Mund zu küssen.
Seine Fähigkeit, vernünftig zu denken, hatte sich bereits mit ihrem Auftauchen verflüchtigt. Jetzt ging ihm auch noch der letzte Rest seines Verstandes verloren. Sein Kopf war mit einem Mal gähnend leer. Alles, was er sich für eine Situation wie diese vorher an klugen und betörenden Worten zurechtgelegt hatte, war wie weggefegt.
Doch zum Glück war es nicht nötig, dass er sich daran erinnerte. Sein Körper schien auch ohne seinen Kopf zu wissen, was zu tun war. Anders ließ es sich nicht erklären, dass seine Hand plötzlich auf ihrer Hüfte lag und die andere um ihren Rücken glitt, um sie an sich zu ziehen.
Er stöhnte unterdrückt, als er spürte, wie ihre Brüste sich an ihn pressten.
Doch sie wich einen Schritt zurück und machte eine auffordernde Kopfbewegung hinter sich in die Schatten. Lorenzo wusste, dass irgendwo da hinten im Erdgeschoss ihre Kammer lag. Wieder fasste sie ihn bei der Hand, und diesmal zog sie ihn mit sich. Er wäre eher gestorben, als zurückzuweichen. Ohne ein Wort ließ er sich von ihr in die Dunkelheit führen.
Schon bevor Sanchia die Kammer betrat, konnte sie Eleonoras Schluchzen hören. Sie blieb vor der Tür stehen und überlegte kurz, ob sie nicht lieber wieder verschwinden sollte. Eleonoras Gefühlsausbrüche waren zwar oft recht heftig, aber meist nicht von langer Dauer. Wenn sie in einer halben Stunde zurückkam, war vielleicht schon alles wieder im Lot.
Sie ging ein Stück den Gang entlang in Richtung Abtritt, weil das der einzige Ort war, an dem sich die jüngeren Mädchen um diese Tageszeit noch berechtigterweise aufhalten durften.
Bruder Ambrosio tauchte zwar nach dem Abendgebet nur selten im Schlaftrakt der Nonnen auf, aber hin und wieder musste man mit einem seiner verhassten Kontrollgänge rechnen. Eine der älteren Nonnen hatte vor ein paar Tagen erzählt, dass er bald wieder abreisen werde, doch wann genau das sein würde, wusste offenbar niemand.
Der Abtritt befand sich eine halbe Treppe tiefer, über einem Fallschacht direkt oberhalb des Kanals, der seitlich am Klostergelände vorbeiführte.
Sie war kurz vorher schon hier gewesen, aber bei der Entscheidung,
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