Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
zu sein schien.
»Seid das Ihr?«
Leonardo verzog das Gesicht. »Was meint Ihr denn?« Er grinste. »Nein, es ist der heilige Hieronymus. Er lebte nicht weit von hier, in der Wüste Chalkis. Der Legende nach gewann er die Freundschaft eines Löwen.«
Lorenzo lachte. »Indem er ihn zeichnete?«
»Wer weiß das schon«, brummte Leonardo.
Später am Abend wurden die Schatten länger, und im Innenhof der Herberge füllten sich die Nischen rund um den Brunnen mit bläulicher Dunkelheit.
Francesco kam zu ihm in die Kammer, ein flackerndes Talglicht in der Hand. »Wir sind fertig mit Einladen. Morgen früh setzen wir Segel. Alles ist planmäßig verlaufen. Wenn du willst, kannst du dich noch ein bisschen amüsieren. Wie ist es?«
»Ach, ich weiß nicht.« Lorenzo schaute aus dem Fenster. Soeben hatte er Sula durch den Hof huschen sehen. Nur wenige Augenblicke später war er sicher, dass er es sich nur eingebildet hatte, denn sie tauchte nicht mehr auf.
Francesco zwinkerte ihm zu. »Bleib nur hier, wenn du meinst.« Er wusch sich und kleidete sich um. »Ich gehe mit Meister Leonardo aus. Er will mir von einem speziellen Anzug erzählen, den er erfunden hat, damit man unter Wasser arbeiten kann. Man kann sogar damit atmen, sagt er. Seiner Meinung nach sehr nützlich für den Gebrauch in einer Lagunenstadt.« Er grinste. Seine Zähne blitzten in dem sonnenverbrannten Gesicht, und seine Augen waren blau wie der Morgenhimmel. Die Frauen in der Kashba würden diesem attraktiven venezianischen Teufelskerl auch an diesem Abend wieder wehrlos erliegen, dachte Lorenzo. Eine Spur von Neid auf seinen weltmännischen Onkel erfüllte ihn.
Nachdem Francesco mit da Vinci losgezogen war, blieb Lorenzo noch eine Weile am Fenster stehen, doch von Sula war weit und breit nichts zu sehen.
Er verließ das Haus, um ein letztes Mal durchs Viertel zu streifen. Die Händler hatten ihre Stände abgebaut, doch die vom Licht der Öllampen erfüllten Gassen waren noch stark belebt. Bettler, Straßenmusikanten und umherziehende Pilger bevölkerten die Kashba ebenso wie die Händler aller Nationalitäten, die nach getanem Tagwerk auf der Suche nach Vergnügungen waren. Flötengedudel und das melodische Klirren von Zimbeln drang aus mehreren Häusern, und aus der einen oder anderen Türöffnung waberte der betäubende Dampf einer Wasserpfeife.
Ein Händler, der gerade vor einer nach Haschisch stinkenden Spelunke seinen letzten Teppich einrollte, sprach Lorenzo auf Venezianisch an. »Du Lust? Du Geld?«
»Nein, ich kaufe keine Frau.«
Der Händler grinste. Seine Zähne waren vom Kauen von Betelnüssen rötlich verfärbt, eine Sitte, die er aus dem Osten mitgebracht haben musste. »Nicht Frau. Du und ich. Wie viel?«
Lorenzo beeilte sich, weiterzukommen. Der Herbergswirt hatte ihm erzählt, dass es hierzulande nicht unter Strafe stand, wenn Männer untereinander verkehrten, aber ihm selbst hatte noch nie der Sinn nach derlei Spielarten gestanden.
Er hatte schon bald genug von seinem Ausflug in die nächtliche Innenstadt Beyruts. Auf dem Rückweg zur Herberge überlegte er, ob er einen Abstecher zum Hafen machen sollte. Er hatte sich heute früh schon um die Tauben gekümmert, doch das weiße Pärchen war noch nicht zurück. Vermutlich würden die Vögel morgen im Laufe des Tages wieder auf dem Schiff eintreffen, wenn alles glattging. Eleonora hielt sich meist peinlich genau an die vereinbarten Ruhezeiten, damit die Tiere nicht überlastet wurden.
Er hatte Leonardo davon erzählt, was den Künstler sofort inspiriert hatte, einen neuen Entwurf für eine Flugmaschine in Angriff zu nehmen. Der Florentiner träumte davon, eines Tages wie auf den Schwingen eines Vogels durch die Lüfte schweben zu können.
Was die Tauben betraf, so hatte Leonardo verschiedene Erklärungen bereit, wie sie auch über größte Entfernungen hinweg von einem Schlag zum anderen fanden. »Es ist vermutlich ein Fall von besonderem Magnetismus«, hatte er gemeint. »Es müssen unsichtbare Strahlen sein, die von einem Gegenstand zum anderen reichen. Und Tauben sowie andere Lebewesen, zum Beispiel Hunde oder Fledermäuse, sind in der Lage, diese zu erkennen. Entweder haben sie ein unvorstellbar feines Gehör oder ein besonderes Geruchsorgan. Oder …« – er hatte skeptisch die Stirn gerunzelt – » …ein spezielles inneres Auge.« Auf der Stelle hatte er eine der Tauben haben wollen, um sie zu sezieren, was Lorenzo indessen entschieden abgelehnt hatte.
In seinem
Weitere Kostenlose Bücher