Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
diesmal waren es Tränen echten Kummers, und ihr Schluchzen war frei von Theatralik.
»Er liebt mich nicht. Ich wollte, er täte es, aber wie kann er das? Er ist sechzehn, schon ein Mann! Ich bin gerade mal zwölf! Und ich sitze hier fest bis an mein Lebensende!«
Sanchia hatte einen gewagten Gedanken. »Niemand kann dich gegen deinen Willen zur Profess zwingen. Weigere dich doch einfach, die Gelübde abzulegen!«
»Welche Wahl bleibt mir denn? Soll ich bis ins Greisenalter Novizin bleiben? Oder als Conversa Töpfe schrubben, bis mir die Finger bluten?« Eleonora schluchzte. »Ich wäre so gern einfach nur zu Hause geblieben! Ich hätte niemanden gestört! Ich wollte nur in Frieden leben!« Sie rieb sich die Augen, doch die Tränen strömten ungehindert nach. »Mein kleiner Bruder – ich hatte mich so auf ihn gefreut! Ich dachte, Mutter würde mit einem neuen Baby wieder lachen und mich lieben können!« Ihre Hände kneteten ihr Nachthemd, und ihre Schultern bebten unter ihren Schluchzern. »Wieso musste das Baby sterben? Wieso musste mein großer Bruder sterben? Wieso mussten meine Eltern sterben? Warum haben alle mich allein gelassen?«
Sanchia war bis an die Wand zurückgewichen. Dort stand sie reglos, die Arme vor der Brust verschränkt, als könnte sie so die Bilder abwehren, die schon zum zweiten Mal an diesem Tag auf sie einstürmten.
Eleonora bemerkte es nicht. Tränen liefen von ihren Wangen über ihr Kinn und tropften in den Ausschnitt ihres Gewandes. »Wenn Lorenzo nett zu mir war, dann nur, um seiner Mutter einen Gefallen zu tun.«
Sanchia fuhr zusammen. In ihren Ohren dröhnte es plötzlich wie von einem nachhallenden Glockenschlag.
Seine Mutter. Warum bist du zurückgekommen? Warum kannst du nicht einfach tot sein?
Ihre Eltern. Sie selbst, eine Schneide an der Kehle. Ihre Mutter, röchelnd, in ihrem Blut ertrinkend, beide Hände um den schweren Leib gekrampft, als könnte sie das Leben darin bewahren. Ihr Vater, hingefallen, verblutend, verloren.
Warum stirbst du nicht?
»Was hast du? Sanchia? Was ist mit dir?«
Vergiss sie einfach. Tu es. Es ist ganz leicht. Denk nicht mehr an sie, dann kann sie auch nicht mehr an dich denken. Streiche sie aus deinem Gedächtnis.
Ein Kaleidoskop wirbelte um sie herum, mit Farben von Asche, Glas und Blut. Dieses Gesicht, die Fratze aus Hass. Das Gesicht seiner Mutter. Sie hatte getan, was Pasquale ihr befohlen hatte. Sie hatte es ganz einfach vergessen. Es war bis vor wenigen Augenblicken aus ihrem Gedächtnis gelöscht gewesen. Sie konnte es erneut verschwinden lassen, wenn sie die Augen schloss und schlief. Sie musste nur schlafen.
Sie ging steifbeinig zum Bett und legte sich hin, die Beine ausgestreckt, die Arme nach wie vor über der Brust gekreuzt.
»Willst du etwa schlafen?«
Ja, sie wollte schlafen, in einen Traum versinken, der sie in eine andere Welt führte. Die Augen fest geschlossen, ergab sie sich dem Orkan, der durch ihre Seele fegte. Vielleicht brachte er sie irgendwohin, wo es keine Erinnerung gab.
Das Kloster San Lorenzo war eine geschichtsträchtige Institution. Bereits über sechshundert Jahre waren seit der Gründung verstrichen, und in dieser Zeit hatte das Kloster seinen Besitz durch Stiftungen und Spenden sowie natürlich durch die nie abreißenden Mitgiften der Nonnen um hunderte von Grundstücken in der Lagunenstadt und auf dem Festland vergrößern können. Die Verwaltung beanspruchte einen beträchtlichen Teil von Albieras Arbeitszeit, obwohl sie im Wesentlichen nur die Geschicke des Hauptklosters in Castello lenkte. Die übrigen Besitztümer standen meist unter der Selbstverwaltung der jeweiligen Pächter und sonstigen Nutzungsberechtigten, bei denen es allein darauf ankam, dass sie pünktlich ihre Abgaben in Form von Geldern oder Naturalien leisteten und regelmäßig Bericht erstatteten.
Dennoch war es ein hartes Stück Arbeit, die ausufernden Besitzungen im Auge zu behalten. Manchmal kam es vor, dass ein Pächter in die eigene Tasche wirtschaftete. Oder Land brachliegen ließ. In solchen Fällen konnte es Monate dauern, bis die Klosterleitung davon erfuhr, und dann war der Ärger groß – so wie heute. Albiera war der Fall eines Bauern aus Mestre vorgetragen worden, der das Kloster jahrelang zuverlässig mit Fleisch beliefert hatte. Bis er auf die Idee gekommen war, eine Herde Rinder auf den Markt nach Vicenza zu treiben und das Vieh dort Stück für Stück zu verkaufen. Mit dem Geld, so hieß es, sei er zuletzt auf dem
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