Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
im Zimmer und wusste nicht, was sie tun sollte. Schweigend fing sie schließlich an, die verstreut herumliegenden Gegenstände aufzusammeln. Es waren wie immer die Habseligkeiten von Eleonora, denn sie selbst besaß nicht genug, um es über das ganze Zimmer verteilen zu können.
Sie hob alles auf, was sie fand. Einen Seidenschal, einen Schnürschuh, einen Strumpf, einen Kamm, eine Leckerei aus Marzipan. Die Kleidungsstücke legte sie ordentlich zusammen und verstaute sie in Eleonoras Truhe. Die essbaren Sachen stapelte sie auf der Fensterbank, die Kosmetikutensilien auf dem Tischchen neben Eleonoras Bett. Auf dem Fußboden neben der Truhe fand sie neben einem geschnitzten Nussbaumkästchen auch ein in hochwertiges Leder gebundenes Buch, das sie unschlüssig in der Hand hielt.
»Auf dem Boden war ein Buch. Ist es deines?«
Eleonora schluchzte nur, und Sanchia betrachtete das Buch nicht ohne Begehrlichkeit, bis sie merkte, dass es ein Bibeltraktat war. Bücher hatten in ihrem Leben einen besonderen Stellenwert gewonnen, aber sie mussten interessant sein. Theologische Schriften waren in den seltensten Fällen besonders erbaulich. Albiera hatte allerdings gemeint, sie müsse Latein lernen, um die besten Bücher lesen zu können.
Sanchia legte Eleonoras Buch – eine Ausführung über den Sinn des gottgefälligen Klosterlebens – zusammen mit dem dazugehörigen, eigens dafür angefertigten Holzkästchen auf ihr eigenes Bett, um später hineinzuschauen. Eleonora würde es nicht vermissen. Vermutlich war es ein Geschenk der frommen Verwandtschaft zur bevorstehenden Profess – und zugleich zur Beruhigung des eigenen Gewissens. Für eine Nonne, die allen weltlichen Reichtümern entsagt hatte, gab es nichts Unverfänglicheres und zugleich Wertvolleres als ein Buch.
Ein Buch, in unzähligen Stunden mühevoller Handarbeit abgeschrieben, koloriert und eingebunden, bedeutete immer auch zugleich den Gegenwert vieler Dukaten, das hatte Sanchia seit ihrer Ankunft hier gelernt. Zwei Dinge hatten ihr klargemacht, dass San Lorenzo, Zuhause der verwöhntesten Töchter der Stadt, ein sehr reiches Kloster war. Die Küche und das Scriptorium. In San Lorenzo gab es nicht nur stets schmackhaftes Essen aus teuren Zutaten, sondern auch dutzende von Druckwerken und zahlreiche in Handarbeit hergestellter, herrlich illustrierter Bücher. Viele der Nonnen hatten ihre Bücher, sofern sie welche besaßen, mit ins Kloster gebracht, wo sie im Scriptorium allen zur Verfügung standen, die lesen konnten.
Ihr Vater war ein wohlhabender Mann gewesen und hatte sogar lesen können, doch in seinem Haushalt hatte es kein einziges Buch gegeben, auch nicht in den anderen Haushalten in der Nachbarschaft der Glasbläserei, in denen sie früher ein und aus gegangen war. Hier gab es Bücher im Überfluss.
Sie wusste nicht, warum sie hier in diesem Kloster gelandet war, aber ihr war klar, dass ihr Vater es so bestimmt hatte. Er hatte nur das Beste für sie gewollt, immer.
Ach, Vater, dachte sie.
Die Fingernägel in die Handflächen gepresst, ließ Sanchia die quälenden Momente vorübergehen. Ihre Brust war wie zugeschnürt, und ihre Augen taten weh, so sehr brannten sie plötzlich. Sie zitterte und keuchte, als sie merkte, dass sie begonnen hatte, sich vor und zurück zu wiegen, immer vor und zurück.
Hör auf damit, befahl sie sich.
Es half nichts, und daher bat sie Gott, dass er die Bilder aus ihrem Kopf nehmen möge, und siehe da, er tat ihr den Gefallen, auch wenn es noch ein paar schmerzhafte Augenblicke dauerte. Eleonoras Schoßhündchen Hector, das draußen an der Tür kratzte, tat ein Übriges. Sie ließ den winzigen Mischlingsrüden herein und drückte ihn flüchtig an sich, bevor er sich vor dem Bett seiner Herrin zusammenrollte.
Stumm beseitigte Sanchia anschließend die restliche Unordnung.
Unterm Bett lag noch ein einsames Ei, das Ambrosio bei seiner Schnüffelei wohl übersehen hatte. Und daneben ein zerknüllter Brief, bei dessen Anblick ihr sofort der Atem stockte. Er stammte von Lorenzo, und sie hatte ihn noch nicht gelesen. Beides erkannte sie im Bruchteil eines Augenblicks. Zögernd hielt sie das dünne Stück Pergament in der Hand, während in ihr die Scham gegen das Verlangen kämpfte, die Zeilen wenigstens zu überfliegen.
Eleonora heulte unterdessen unaufhörlich vor sich hin.
Sanchia legte den Brief ungelesen zur Seite. Sie merkte, wie in ihrem Inneren eine Schleuse aufbrach. Ihre Hand fühlte sich an wie ein fremdes
Weitere Kostenlose Bücher